Themenforum Migration in München
Weltstadt in Bewegung: Migrationserfahrungen zwischen München und dem ehemaligen Jugoslawien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
von Karolina Novinšćak KölkerBild: Vera Rimski aus Jugoslawien wird als „zweitmillionste Jubiläumsgastarbeiterin“ vom Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Josef Stingl (Mitte), sowie vom bayerischen Arbeitsminister, Fritz Pirkl (links), am Münchner Hauptbahnhof in Empfang genommen, 8. März 1972.
Süddeutsche Zeitung Photo/Fotograf: Fritz Neuwirth
Einleitung
Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, Bayerns und insbesondere Münchens machte im Laufe ihrer Migrations- und Einwanderungsgeschichte umfassende Erfahrungen mit freiwilligen und unfreiwilligen Ein- und Auswanderungen, mit Sesshaftwerdungen, Zufluchtnahmen, Remigrationen und Pendelmigrationen von Bürgerinnen und Bürger mit Bezugsland Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten.1
Folgender Beitrag folgt den Spuren der Menschen in Bewegung zwischen dem ehemaligen Jugoslawien und München und beleuchtet die verschiedenen Migrationsphasen, die der intensiven Zuwanderung von damals sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern im 20. Jahrhundert voran und nachgegangen sind. In allen Migrationsphasen ist die Landeshauptstadt München ein zentraler Knotenpunkt, an dem unzählige Migrationswege aus dem ehemaligen Jugoslawien zusammenlaufen, sich kreuzen, weiter- oder zurückführen oder in kurz- und langfristigen Niederlassungen und Heimischwerdungen münden. Menschen, die aus ökonomischen, politischen oder anderen Gründen nach München freiwillig oder unfreiwillig zuwanderten, begegneten dabei – je nach Migrationsstatus – verschiedenen Niederlassungs- und Teilhabe(un)möglichkeiten, die im Folgenden skizziert werden.
„Displaced Persons“ und Geflüchtete aus Jugoslawien in der Nachkriegszeit
Bei Kriegsende befanden sich auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches zehn bis zwölf Millionen „Displaced Persons” (DPs) und Geflüchtete – d.h. nicht-deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die während der NS-Zeit verschleppt, in KZs oder Arbeitslagern interniert oder kriegsbedingt aus ihrer Heimat geflohen oder vertrieben worden waren.2 Nach Kriegsende war die oberste Prämisse der alliierten Besatzungsmächte, die aus dem Ausland verschleppten Menschen und Geflüchteten zu sammeln und in ihr Herkunftsland zurückzubringen. Die jeweiligen Militärregierungen in den besetzten Gebieten beschlagnahmten öffentliche Gebäude, wie z.B. Kasernen, Krankenhäuser und ehemalige Arbeitslager oder Wohnsiedlungen, und funktionierten sie innerhalb kürzester Zeit zu Transit- und Sammelunterkünfte, sogenannten DP-Camps, um. Die DP-Fürsorge in den Camps oblag bis 1947 der Verwaltung der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration), nachfolgend kümmerte sich die IRO (International Refugee Organisation) um die in Deutschland verbliebenen ausländischen Zwangsmigrantinnen und Zwangsmigranten.3 In Bayern lebten im Oktober 1946 etwa 278.000 zwangsmigrierte, ausländische Personen, hinzu kamen rund zwei Millionen deutschstämmige Geflüchtete und Vertriebene aus Ost- und Südosteuropa.4
Weil Bayern die längste Grenze zum östlichen Europa, dem damals sogenannten Ostblock, hatte, war es für viele ost- und südosteuropäische Geflüchtete der Nachkriegszeit erstes Ziel-, Zufluchts- und Aufnahmeland. Auch der von Partisaninnen und Partisanen und der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ)5 gegründete jugoslawische Staat gehörte bis zum Jahr 1948 zur sowjetischen Einflusszone.6 Bayern wurde daher auch zum bedeutsamen Zufluchtsgebiet für deutsche- und nichtdeutsche Zwangsmigrantinnen und Zwangsmigranten der Kriegs- und Nachkriegszeit aus dem sozialistischen Jugoslawien.
Die DPs wurden zur Zeit der amerikanischen Besatzung zunächst nach Nationalitäten gesammelt und untergebracht. So entstand u.a. im Münchner Norden, im DP-Lager Freimann, ein Sammellager für rückkehr- und nicht-rückkehrwillige „Yugoslav DPs“. Hier fanden Verschleppte, Geflüchtete oder ehemalige Kriegsgefangene mit jugoslawischer Staatsangehörigkeit, sofern ihnen keine NS-Kollaboration vor und während des Krieges nachgewiesen werden konnte, eine erste Zuflucht, gemeinsam mit anderen Nationalitätengruppen. Die Bevölkerungsstatistiken des Jahres 1948 zeigen für Bayern, dass die verbliebenen nicht-deutschen Zwangsmigrierten aus über 60 verschiedenen Ländern stammten, wobei Polinnen und Polen fast die Hälfte der ausländischen Bevölkerung Bayerns stellten (46,4 %), gefolgt von den Personen aus den Baltischen Staaten, Österreich, Ungarn, Jugoslawien, Russland/UdSSR u.a.7 Von den insgesamt 15.622 Zwangsmigrantinnen und Zwangsmigranten aus Jugoslawien, die in der amerikanischen Besatzungszone eine erste Zuflucht fanden und dort 1948 noch verweilten, lebte die große Mehrheit, über 77 % (12.023), in Bayern.8
Wohnraum und Arbeit waren in den bayerischen Städten hart umkämpft. So mussten sich in München die neu zugezogenen Angehörigen der Militärregierung, deutsche Geflüchtete und Vertriebene, ausländische DPs und Geflüchtete, Kriegsheimkehrer, Evakuierte und alteingesessene Münchnerinnen und Münchner den knappen Wohnraum teilen. Manche Zwangsmigrantinnen und Zwangsmigranten hatten Glück und bekamen als „free living DPs“ privaten Wohnraum zugewiesen, andere kamen in DP-Lagern der UNRRA/IRO unter und wieder andere in Flüchtlingslagern der bayerischen Flüchtlingsverwaltung. Nach 1951 wurden die DP-Camps aufgelöst oder in Lager für „Heimatlose Ausländer“9 oder „Ausländerlager“ umbenannt.
Bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit engagierten sich die Zwangsmigrierten auch im kulturellen Bereich, gründeten z.B. Fußballmannschaften oder Theatergruppen, führten eigene Schulen in den DP-Camps, studierten oder lehrten an der von der UNRRA errichteten DP-Universität in den Räumlichkeiten des Deutschen Museums in München.10 In der frühen Migrationsphase entstanden in Nachkriegs-München auch die ersten migrantischen Religionsgemeinschaften. Im Jahr 2018 feierte die Kroatische Katholische Gemeinde ihr 70-jähriges Bestehen in München und zählt mit über 50.000 Kirchenmitgliedern zur ältesten und mitgliederstärksten kroatischen katholischen Gemeinde im Ausland.
Die Geflüchteten oder Rückkehrunwilligen mit Bezugsland Jugoslawien waren vielfach Anhängerinnen und Anhänger des monarchistischen Jugoslawiens oder kamen aus den Reihen der ehemaligen Kollaborateurinnen und Kollaborateure des NS-Regimes oder sie waren politisch verfolgte Oppositionelle der neuen kommunistischen Regierung in Jugoslawien. Viele wanderten aus Deutschland in die USA, nach Kanada oder Australien aus, andere blieben. Somit wurde München während des Kalten Krieges zum politischen, antikommunistischen Exil-Zentrum mit Bezugsland Jugoslawien, auch für andere mitteleuropäische, damals sogenannten Ostemigranten oder osteuropäischen Exilanten.11 Später, ab den späten 1960er Jahren kamen Geflüchtete des „Kroatischen Frühlings“ und der jugoslawischen Studentenproteste hinzu, die als Aktivistinnen und Aktivisten für Demokratie und Meinungsfreiheit der zunehmenden staatlichen Repression und dem verordneten „öffentlichen Schweigen“ in Jugoslawien entflohen.12
Zwischen Wirtschaftsflucht und politischer Emigration
Weil legale Zuwanderungswege für jugoslawische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre weitestgehend fehlten, setzte deutschlandweit und in Bayern verstärkt eine Zuwanderung aus Jugoslawien ein, die in der Politik und Öffentlichkeit als „Wirtschaftsflucht“ wahrgenommen wurde. Ab 1953 füllten sich zentrale Sammellager für Ausländerinnen und Ausländer in Nürnberg und in Zirndorf. Im „Volksmund“ wurden sie zeitweilig auch „Jugo-Lager“ genannt, weil in ihnen besonders viele jugoslawische Arbeitssuchende und Geflüchtete, die um politisches Asyl ersuchten, untergebracht waren.13 Den Daten der bayerischen Grenzpolizei zufolge reisten in den Jahren 1958 und 1959 im Monat durchschnittlich 2.000 Jugoslawen in die BRD ein.14 Die Zuwanderung der Geflüchteten Jugoslawiens wurde zum zentralen „Flüchtlingsproblem“ Europas, weil sie in Österreich und in Deutschland nicht als „echte Flüchtlinge“, sondern als arbeitsuchende „Wirtschaftsflüchtlinge“ wahrgenommen wurden. Im Vergleich zu den anderen Geflüchtetengruppen aus den kommunistischen Staaten des Warschauer Pakts war die Anerkennungsquote bei geflüchteten Jugoslawinnen und Jugoslawen unterproportional gering und sie wurden verdächtigt, bewusst Asylgründe vorzutäuschen.15 Im Laufe der 1960er Jahre stellten die Asylsuchenden aus Jugoslawien die größte Gruppe ausländischer Geflüchteter in der Bundesrepublik Deutschland – die Mehrheit wurde nach Jugoslawien abgeschoben.16
Schließlich schlossen am 12. Oktober 1968 die Regierungsvertreter der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien und der Bundesrepublik Deutschland nach langen Verhandlungen ein Abkommen über die Regelung der Vermittlung jugoslawischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihrer Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland sowie ein deutsch-jugoslawisches Sozialversicherungsabkommen.17 Europaweit schöpfte die Bundesrepublik Deutschland bis 1973 den größten Anteil (62 %) der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien ab.18 Die Hauptherkunftsgebiete der vermittelten ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus Jugoslawien waren im Jahr 1973 Kroatien (25,9 %), Bosnien-Herzegowina (24,6 %), Serbien (13,8 %) und Kosovo (11,8 %).19 Seit den 1970er Jahren bilden die Zuwanderer aus dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens die stärkste Ausländergruppe in München. Der Auslöser dieser intensiven Anwerbe- und Zuwanderungsphase war unter anderem der Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele 1972, als in München in kürzester Zeit große Bauvorhaben bewältigt werden mussten: der Auf- und Ausbau des U- und S-Bahnnetzes, der Bau von Straßen und Brücken, die Errichtung des Olympia-Geländes, der Ausbau der Fußgängerzone und vieles andere mehr. War die Arbeitsmigration zu Beginn der deutsch-jugoslawischen Anwerbegespräche noch ein politisches Schlüsselthema der Entspannungspolitik zwischen beiden Staaten, so förderten die freundschaftlichen deutsch-jugoslawischen Beziehungen nach und nach auch die Zusammenarbeit in Wirtschaft und Kultur. Auch der Freistaat Bayern begründete im Jahr 1970 eine gemeinsame Regierungskommission mit der Sozialistischen Republik Serbien, 1971 wurde mit der Sozialistischen Republik Kroatien eine bayerische-kroatische Regierungskommission gegründet, die 1972 ihre Arbeit aufnahm und bis heute noch besteht.20 Zwar lag der Schwerpunkt der Kommissions-Gespräche auf den Wirtschafts- und Kulturbeziehungen zwischen Bayern und den jugoslawischen Teilrepubliken, ein konstanter Tagesordnungspunkt waren jedoch auch die Lebensverhältnisse der jugoslawischen „Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter“ in Bayern, die für die jugoslawische Seite von besonderer Wichtigkeit waren.21
Loyalitätsansprüche des Herkunftsstaates Jugoslawien an seine „Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter“
Der jugoslawischen Regierung diente die bilateral organisierte Arbeitsvermittlungsmöglichkeit der Arbeitslosen nach Deutschland auch als Ventil, um soziale und politische Spannungen innerhalb des Landes abzubauen, denn der Frust über die Regierenden war bei der Nachkriegsgeneration in dieser Zeit groß. Proteste der Studierenden, politische Reformbewegungen und die aufflammenden Nationalitätenfragen rüttelten Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre kräftig am Einparteiensystem Jugoslawiens.22 Mit Sorge wurde von den jugoslawischen Sicherheitsbehörden und dem Außenministerium zur Kenntnis genommen, dass politische oppositionelle Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland als Arbeitsvermittler, Dolmetscher oder Sozialarbeiter an die legal und illegal ausgewanderten jugoslawischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger herantraten und ein neues Wirkungsfeld für ihre anti-jugoslawisch-kommunistischen Aktionen erschlossen. München wurde somit auch zu einem Austragungsort innerjugoslawischer politischer Konflikte sowie transterritorialer staatlicher Repressionen des jugoslawischen Regimes gegen seine im Ausland wirkenden politischen Gegner verschiedenster politischer Couleur.23
Der Loyalitätsanspruch des jugoslawischen Staates gegenüber seinen Migrantinnen und Migranten hatte nicht nur politisch-ideologische, sondern auch wirtschaftliche Hintergründe. Angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise in Jugoslawien und der beständigen negativen Außenhandelsbilanz setzte der jugoslawische Staat auf die Rücküberweisungen von Devisen in das Herkunftsland durch die Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten.24 Alleine in den Jahren 1972/1973 erhielt Jugoslawien über vier Milliarden Deutsche Mark durch Geldtransfers der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten aus dem Ausland.25 Auch heute noch sind die Rücküberweisungen der Ausgewanderten in die Herkunftsländer der Region ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
Zwischen Willkommensein und Ablehnung
In den ausgehenden 1960er und beginnenden 1970er Jahren wurden Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in Deutschland von Politikern und Presse öffentlich gefeiert – um sie willkommen zu heißen und ihre Leistung für den bundesdeutschen Wirtschaftsboom zu würdigen. So wurde in München am 8. März 1972 eine „Jubiläums“-Migrantin stellvertretend für den Beitrag, den die ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmeren für die deutsche Wirtschaft leisteten, feierlich willkommen geheißen. Nach einer langen Zugreise aus Belgrad wurde die damals 19-jährige Vera Rimski, gemäß ihrer Arbeitsvertragsnummer, als „zweimillionste Jubiläumsgastarbeiterin“ der Bundesrepublik Deutschland ausgewählt.26 Eine offizielle Delegation, angeführt vom Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit Josef Stingl sowie dem bayerischen Arbeitsminister Fritz Pirkl, empfing Vera Rimski am Münchner Hauptbahnhof mit Blumen, Geschenken und viel Presse, nachdem sie aus einem Sonderzug für „Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter“ gestiegen war.27 Als Rentnerin erinnerte sie sich im Interview mit der Autorin an ihren besonderen Ankunftstag folgendermaßen: „Es war schön, die Journalisten waren da, fotografierten hier und da, alle fragten sich: Wer ist dieses Kind. Du bist die millionste ‚Gastarbeiterin‘, sagte mir mein Mann, ich verstand ja nichts. Ich bekam Blumen, Geschenke, es war sehr schön. Und um mich herum hörte ich nur ‚schön, schön‘.“28 Für eine Einreise und Arbeitsaufnahme in Bayern benötigte sie damals weder einen Deutsch- noch einen Integrationskurs. Ausreichend waren ihr befristeter Arbeitsvertrag von Siemens und eine medizinische Bescheinigung ihrer Arbeitsfähigkeit. Beide Dokumente hatte sie bereits in ihrer Heimat, in einem jugoslawischen Arbeitsamt, erhalten und unterschrieben.
Am Münchner Hauptbahnhof wurde Vera Rimski von Josef Stingl zudem mit einem tragbaren Fernsehgerät beschenkt. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit sprach dazu seine Hoffnung aus, Vera könne damit vielleicht etwas leichter in die Geheimnisse der schwierigen deutschen Sprache eindringen. An dem Tag verstand sie nichts, erzählte Vera, sie fühlte sich jedoch geehrt. Allen anderen mitgereisten „Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern“ aus Jugoslawien wurde diese medienwirksame Aufmerksamkeit nicht zuteil. Im Gegenteil, die ankommenden „Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter“ sollten mit Lautsprecherdurchsagen so schnell wie möglich vom Gleis 11 in den anliegenden Bunker geführt werden. Ein Interviewpartner aus Bosnien-Herzegowina erinnert sich beim Rückblick an den Ankunftstag in München daran, sich damals getrieben wie ein Tier in einer Herde gefühlt zu haben: „Wir kamen hier an wie die Kälber. Wie die Kälber! Zuerst kamen wir nach München und in den Keller am Bahnhof an der Zugstation. Ja, das war unten am Hauptbahnhof, unten wo die Züge sind. Da wo die WC´s sind. Dort gibt es einen Raum. Da haben wir Hühnchen bekommen und etwas zu trinken. Und dann ging es weiter.“29
Für die migrationswilligen Arbeitssuchenden aus Jugoslawien war München aufgrund seiner südlichen Lage und geografischen Nähe zum Herkunftsland ein begehrtes Migrationsziel, da häufige und regelmäßige Heimfahrten mit dem Zug, Bus oder Auto möglich waren. Zudem bot die Stadt auch viele Arbeitsmöglichkeiten. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, Gewerkschaften und die Bundesregierung einte in den ersten Anwerbejahren die Annahme, dass die Ausländerbeschäftigung nur temporären Charakter haben sollte. Dies unterstrich auch die damals in Deutschland übliche Bezeichnung „Gastarbeiter/in“ für die neu hinzuziehenden Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten. Auch im Herkunftsland Jugoslawien wurde die Migration der Arbeitsuchenden ins kapitalistische Ausland nur als Übergangslösung gesehen. Die offizielle jugoslawische amtliche Bezeichnung für Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten war „radnik na privremenom radu u inozemstu ili inostranstvu“, was übersetzt „temporär im Ausland beschäftigter Arbeiter“ bedeutet. Die beidseits bestehende migrationspolitische Annahme einer zeitweiligen Arbeitsmigration sollten sich für einen großen Teil der eingewanderten Bevölkerung als illusorisch erweisen, da sich die Aufenthalts- und Arbeitszeiten von Jahr zu Jahr verlängerten und Familien gegründet wurden, die sich in München ein dauerhaftes Zuhause einrichteten. Neben den langfristigen Einwanderungen nach München vollzogen sich auch Remigrationen oder Pendelmigrationen, die ebenfalls charakteristisch für das Migrationsgeschehen aus Jugoslawien und den Nachfolgestaaten waren und auch heute noch sind.30
Zu Beginn der Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland bis Anfang der 1970er Jahre gab es von Seiten der Stadt München kaum soziale oder kulturelle Teilhabeangebote für die ausländischen Neubürgerinnen und Neubürger.31 Hilfsorganisationen wie die Caritas der römisch-katholischen Kirche, die Innere Mission der Diakonie der evangelischen Kirche und die dezentral organisierte Arbeiterwohlfahrt kümmerten sich im Wesentlichen um die soziale Betreuung und Integration der Neu-Münchnerinnen und Neu-Münchner aus Südosteuropa, aber auch die Gewerkschaften, Betriebsräte und später der Ausländerbeirat der Stadt München traten für ihre Belange ein. Aus den Gesprächen mit den Akteurinnen und Akteuren wurde deutlich, dass sich die Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten mit ihren persönlichen sozialen und beruflichen Netzwerken auch gut selbst zu helfen wussten. Sie gründeten bereits in den 1970er Jahren Sport- und Kulturvereine, von denen einige bis heute noch aktiv sind.
München – Zufluchtsort für Kriegsgeflüchtete der 1990er Jahre
Nach dem europäischen Anwerbestopp im Jahr 1973 wurde mit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise in Jugoslawien die Zuwanderung aufgrund von Familienzusammenführungen immer bedeutsamer. Der wirtschaftliche und politische Zerfall Jugoslawiens sowie die darauffolgenden Kriege in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo führten während der 1990er Jahre zu den bis dahin größten Fluchtbewegungen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Über 4 Millionen Menschen mussten ihre Heimatorte verlassen. Die Bundesrepublik Deutschland nahm die meisten ins Ausland Geflüchteten, vorwiegend aus Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo, auf – rund 350.000 Menschen. Während der Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina wurde München nicht zuletzt wegen transnationaler, d.h. grenzüberschreitender familiärer und freundschaftlicher Netzwerke zu einer zentralen Zufluchtsstadt. Zahlreiche hilfsbereite Menschen, auch ohne Migrationsbezüge, unterschrieben Verpflichtungserklärungen, mit der sie dem Freistaat Bayern garantierten, für Unterkunft und Verpflegung der Geflüchteten aus den Kriegsgebieten Jugoslawiens zu sorgen.32
Mehr als ein Drittel aller Zuwanderungen aus dem Ausland nach München kam im Zeitraum von 1992 bis 1998 aus den jugoslawischen Nachfolgestaaten, die meisten aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina.33 Auch Deserteure, die nicht in der jugoslawische Volksarmee oder anderen nationalen Armeen kämpfen wollten, suchten Zuflucht. Mit dem späteren Krieg im Kosovo kamen geflüchtete Albanerinnen und Albaner hinzu. Die große Zufluchtnahme von Geflüchteten aus Jugoslawien und anderen Staaten löste in Deutschland eine öffentliche und politische Debatte über die Asylpraxis aus, die in einer Einschränkung des Asylrechts mündete.34 Hinzu kam eine Welle rassistischer und ausländerfeindlicher Gewalttaten.
In München fanden bis Mitte der 1990er Jahre rund 28.000 Geflüchtete bei Familienangehörigen, Freunden und in Flüchtlingsunterkünften ein Refugium auf Zeit. Münchnerinnen und Münchner mit und ohne Migrationshintergrund engagierten sich während der 1990er Jahre in Vereinen oder Religionsgemeinden humanitär und sammelten unzählige Spenden. Die Geflüchteten konnten zunächst während der Kriegsjahre mit einer Duldung in München bleiben, andere mussten im sogenannten Weiterwanderungsverfahren im weiteren Ausland Zuflucht suchen. Der Profifußballer Neven Subotić, geboren 1988, berichtete in einem Interview 2015: „Wir wurden geduldet. Manchmal ging eine Duldung über sechs Monate, manchmal über drei. Später wurden die Zeiträume immer kürzer. Wir hatten keine Klarheit, konnten nicht planen. Meine Eltern wussten nicht: Packen wir jetzt die Taschen?“35
Nachdem 1994 das deutsch-kroatische Rückübernahmeabkommen unterzeichnet wurde, mussten rund 90.000 Kriegsgeflüchtete Bayern in Richtung Kroatien verlassen, bald danach kam es auch zu Abschiebungen nach Bosnien-Herzegowina, der Bundesrepublik Jugoslawien und Kosovo. Viele Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber in München verloren ihre Arbeitskräfte, für die sie schon lange keine deutschen Bewerberinnen und Bewerber mehr gefunden hatten. Gemäß den Angaben der Süddeutschen Zeitung hatten 1994 bereits 60 % der Geflüchteten in München eine Arbeit gefunden.36 Nur ein Viertel bekam Sozialhilfe, die meisten versorgten sich selbst.37 Trotzdem musste die Mehrheit der Geflüchteten nach Beendigung der Kriege auf dem Gebiet des zerfallenen Jugoslawien in ihre Herkunftsländer zurückkehren.
München – Weltstadt in Bewegung
Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland hatten über viele Jahrzehnte hinweg große Mühe, die Einwanderungsrealitäten affirmativ als eigenen und dauerhaften Teil der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung anzuerkennen. Viele integrationspolitische Maßnahmen wurden durch die politische Haltung, kein Einwanderungsland sein zu wollen, versäumt. Dennoch partizipierten die Eingewanderten in vielen sozialen, beruflichen, kulturellen und anderen Bereichen – unmittelbar vor Ort – durch ihre Selbstinitiative und durch Unterstützung innerhalb der Familien- oder Freundesnetzwerke. München wurde im Verlauf der letzten Jahrzehnte zu einem neuen Heimatort für Familien, die bereits in dritter oder sogar vierter Generation auf eine Einwanderungsgeschichte aus Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Slowenien zurückblicken können. Auch für viele Rückkehrerinnen und Rückkehrer ist München ein wichtiger Lebens- oder Bezugsort geblieben. Wenngleich zahlreiche ehemalige „Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter“ der 1960er und 1970er Jahre aus München in die ursprüngliche Heimat zurückkehrten, leben viele von ihnen in transnationalen, d.h. grenzüberschreitenden Familienstrukturen. Im Lebensabschnitt des Ruhestandes angelangt, pendeln sie, sofern es die Gesundheit erlaubt und die finanziellen Möglichkeiten dazu bestehen, über Staatsgrenzen zwischen zwei familiären Heimatorten. Im Zuge des EU-Beitritts von Kroatien (2013) hat die Arbeitsmigration nach München wieder deutlich an Fahrt aufgenommen – die größte Gruppe der aktuellen Netto-Zuwanderung aus dem Ausland ist die der Kroatinnen und Kroaten.38 Aufgrund des wieder hohen Arbeitskräftemangels in vielen Teilen Deutschlands und so auch in Bayern, z.B. im Gesundheits- und Pflegewesen, werden wieder intensiv Arbeitskräfte aus Kroatien und den westlichen Balkanländern angeworben.39 Somit bleibt auch München durch Zuwanderung, Einwanderung, Remigration und Pendelmigration eine Weltstadt in Bewegung und ein Hotspot der Migrationen zwischen dem südöstlichen und dem nordwestlichen Europa.