Themenforum Oberwiesenfeld
„They’re all gone“ – Das Olympiaattentat 1972
von Roman Deininger und Uwe RitzerBild: Trauerzeremonie am 6. September 1972 die Opfer des Terroranschlags: Die olympische Flagge steht auf Halbmast, als 80.000 Menschen im Münchner Olympiastadion der elf getöteten israelischen Athleten und dem ermordeten Polizisten gedenken.
Foto: picture-alliance/dpa
Yossef Gutfreund, der zwei Meter große Ringer-Kampfrichter aus Israel, hat einen herrlichen Olympiatag hinter sich. Am Nachmittag war er Bummeln in der Münchner Innenstadt, für seine beiden Töchter hat er Musikkassetten der Rolling Stones gekauft. Am Abend besuchte er mit fünf anderen Mitgliedern des israelischen Olympia-Teams im Deutschen Theater eine Aufführung von „Anatevka“, dem berühmten jüdischen Musical um den Milchmann Tevje, der immer noch lachen kann, ganz egal, welche Demütigung ihm das Leben zumutet. Das Lied „Wenn ich einmal reich wär“ sang der ganze Saal mit. Nach der Aufführung feierten die Israelis mit dem Ensemble. Ein lustiges Foto ist dabei entstanden: Der Hüne Gutfreund nimmt Hauptdarsteller Shmuel Rodensky in den Arm, der locker einen Kopf kleiner ist und nur halb so breit.
Wenn man die Bilder der israelischen Olympioniken aus dem Deutschen Theater heute betrachtet, sieht man das pure Glück. Es war der Abend des 4. September 1972, und niemand ahnte, dass es der letzte Tag der „heiteren Spiele“ sein würde. Während die Israelis sich langsam auf den Rückweg ins olympische Dorf auf dem Oberwiesenfeld machten, traf sich am Münchner Hauptbahnhof eine Gruppe junger Palästinenser. Ein grausamer Anschlag nahm seinen Lauf, der zwölf unschuldigen Menschen das Leben kostete und der unbeschwerten Atmosphäre der Olympischen Spiele von München ein jähes Ende setzte.
Gutfreund, 40 Jahre alt, liegt noch nicht lange im Bett, als es im Appartement Nummer eins in der Connollystraße 31 klingelt.[1] Es ist halb fünf an diesem 5. September und eigentlich herrscht Stille im olympischen Dorf. Er geht zur Tür und öffnet. Blitzschnell ist Gutfreund hellwach. Er erkennt Waffen, sieht mehrere Eindringlinge und versucht, die Türe wieder zuzudrücken. Mit seinem gesamten Körpergewicht, 130 Kilogramm, stemmt er sich dagegen. Die Beine spreizt er an der nächstliegenden Wand ab. Er brüllt, um seine Mitbewohner zu warnen, schreit so etwas wie: Raus hier, raus, haut ab. Sein Geschrei und der Lärm wecken auch die Bewohner der umliegenden Appartements, in denen vor allem Sportler, Trainer und Kampfrichter aus Israel wohnen. Yossef Gutfreund rettet damit Menschenleben, denn mehrere Teamkollegen können noch fliehen. Ganz aufhalten kann er das palästinensische Terrorkommando aber nicht.
Die heiteren Spiele
Mit den Spielen von München hatten die Deutschen der Welt 27 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeigen wollen, dass sie den braunen Ungeist vertrieben haben. Dass sie kein uniformiertes, waffenstarrendes Volk mehr sind, das Olympia als martialisches Propagandaschauspiel missbraucht wie 1936 in Berlin. Die Jugend der Welt sollte in München keine kriegerische, rassistische Nation mehr erleben, sondern ein neues Deutschland kennenlernen: demokratisch, offen und vor allem friedlich. Und bis zu jenen Morgenstunden des 5. September hat das auch vortrefflich geklappt.
Ganz München swingt, die Weltpresse ist voller Bewunderung für die lässigen Deutschen und ihre Spiele, für die Fairness des Publikums, das selbst DDR-Athletinnen und -Athleten herzlich beklatscht, die atemraubende Stadionarchitektur des Günter Behnisch und das federleichte Design des Otl Aicher. „Die erste Goldmedaille für die Deutschen“ hat die Pariser Zeitung „L’Aurore“ nach der farbenprächtigen Eröffnungsfeier getitelt.[2] Die „heiteren Spiele“ waren der Traum des kongenialen Organisatoren-Duos Hans-Jochen Vogel und Willi Daume gewesen, des Münchner Oberbürgermeisters (SPD) und des deutschen Olympiachefs. Für einen langen Moment ist dieser Traum wahr geworden. Doch nun entpuppt er sich als schrecklich naiv.
Fahrlässigkeit der Sicherheitsbehörden im Vorfeld der Spiele
Die Naivität reicht weit zurück. Auf nahezu alle erdenklichen Zwischenfälle bereiten sich die Münchner Polizei und die Sicherheitsbehörden vor, seit München 1966 vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) den Zuschlag für die Spiele erhalten hat. Auf eine Zunahme von Taschendiebstählen und Straßenprostitution zum Beispiel, auf nackige Hippies im Englischen Garten und Staus auf den Straßen. Die Möglichkeit eines Terroraktes blenden die Verantwortlichen jedoch kategorisch aus. Und das, obwohl radikale Palästinenser ihre Anschläge auf Jüdinnen und Juden schon längst in aller Welt verüben. Sogar am Münchner Flughafen-Riem hat ein palästinensisches Kommando im Februar 1970 einen israelischen Passagier ermordet und elf weitere verletzt.
Wenigstens einer sieht die Gefahr. Der junge Münchner Polizeipsychologe Georg Sieber skizziert einige Monate vor den Spielen 26 mögliche Bedrohungsszenarien, im Polizeijargon „Lagen“ genannt.[3] „Lage 21“ beschreibt detailliert einen Angriff palästinensischer Terroristen auf Olympia: Ein Freischärler-Kommando habe gegen fünf Uhr früh den Zaun des Dorfs überstiegen, schreibt Sieber, die Eindringlinge hätten den Wohnblock der israelischen Mannschaft besetzt. Es würden Schüsse und Rauch gemeldet. Es ist im Rückblick beinahe gespenstisch, wie Sieber die Wirklichkeit vorwegnimmt. Aber als er die „Lage 21“ intern vorstellt, wird er von Münchens Polizeipräsident Manfred Schreiber niedergebügelt. Eine Attacke auf die Olympischen Spiele? Das globale Fest des Sports? Niemals. Das traut sich keiner.
Auch zahlreiche Warnungen und Hinweise eigener Spione im Ausland oder von befreundeten Geheimdiensten verpuffen nahezu wirkungslos. Genauso wie das Fernschreiben der Dortmunder Polizei, die im Juli 1972 die Münchner Kollegen auf einen gewissen Willi Pohl hinweist, Mitglied der rechtsextremen „Volksbefreiungsfront Deutschland“, der im Frühjahr 1972 wochenlang Abu Daoud durch die Lande chauffiert – den Drahtzieher des Attentats, wie man heute weiß.
Pohl, der später den Nachnamen Voss annimmt, erhält im Sommer Zugang zu den höchsten Kreisen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und deren Geheimdienst. Die Palästinenser schicken Pohl im August als Kurier los. In Paris übergibt er eine Botschaft in arabischer Sprache, die er angeblich – so wird er sich später rechtfertigen – nicht versteht, an einen jungen Mann, den er in einer Studentenmensa trifft. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich um Issa, den Anführer des Terrorkommandos, der in München mit schwarz bemaltem Gesicht und Tropenhut auffallen wird.
Dass deutsche Rechtsextremisten dem „Schwarzen September“ halfen, den Anschlag vorzubereiten, kommt erst vierzig Jahre später ans Tageslicht.[4] Überhaupt sind bis heute längst nicht alle Hintergründe der Tat bekannt. Noch immer liegen in Archiven gesperrte Akten.
Als die Spiele am 26. August 1972 beginnen, verfügt die Münchner Polizei weder über eine Einsatzstrategie für den terroristischen Notfall noch über ausgebildete Scharfschützen, geschweige denn über entsprechende Spezialgewehre und passende Munition. Die Polizisten und Grenzschützer, die aus der gesamten Bundesrepublik zum Ordnungsdienst auf dem Oberwiesenfeld zusammengezogen wurden, tragen helle Phantasieuniformen und keine Waffen. Die Eingänge zum olympischen Dorf werden kaum kontrolliert, der Zaun ringsum ist nur zwei Meter hoch und seine Pfosten sind oben abgerundet.
Geiselnahme im olympischen Dorf
Und weil es so fröhlich und locker zugeht, denken sich auch die sechs Postbeamten nichts, die am frühen Morgen des 5. September auf dem Weg zum Dienst im Olympiapostamt acht junge Männer in Trainingsanzügen beobachten, die über den Zaun ins Athletendorf klettern. Seit Beginn der Spiele ist es schließlich normal, dass Sportlerinnen und Sportler abends ausbüxen, sich ins Münchner Nachtleben stürzen und am frühen Morgen wieder zurück ins Dorf schleichen. Gerade rechtzeitig, bevor Trainer und Betreuer ihre Abwesenheit bemerken. Im Nachhinein werden sich die Postbeamten fragen, ob ihnen nicht die großen Sporttaschen hätten auffallen müssen, die die vermeintlichen Athleten offenbar in der Disco dabeihatten und über den Zaun warfen.
Vom Zaun laufen die Attentäter in die Connollystraße, die nach dem amerikanischen Dreispringer James Connolly benannt ist, dem ersten Olympiasieger der Neuzeit. In Haus Nummer 31 sind verteilt auf mehrere Appartements 21 Mitglieder des israelischen Olympia-Teams einquartiert. Das Terrorkommando rennt zunächst ein Stockwerk zu weit nach oben und platzt in eine falsche Wohnung, in der Athleten aus Hongkong leben. Dann stürmt es zwei Wohnungen mit Israelis.
Yossef Gutfreund ist nicht der einzige, der Widerstand leistet. Im Handgemenge erschießen die Palästinenser den Ringertrainer Moshe Weinberg und verletzen den Gewichtheber Yossef Romano schwer. Sie treiben neun Israelis im Zimmer des Fechttrainers Andrei Spitzer zusammen. Die Athleten werden gefesselt und müssen die folgenden Stunden auf zwei gegenüberliegenden Betten sitzen, stets bedroht von Terroristen mit Maschinengewehren. Den sterbenden Romano legen die Palästinenser zwischen die Geiseln auf den Boden; sein Todeskampf dauert mehrere Stunden. Alle Bitten, doch einen Arzt zu rufen, ignorieren die Geiselnehmer.
Ein hilfloser Krisenstab
Zwei Polizisten, die vor dem Haus auftauchen, werfen sie mehrere Blätter zu. Darauf stehen die Namen von 328 Gesinnungsgenossen, deren Freilassung bis 9 Uhr sie fordern. Die allermeisten sind in Israel inhaftierte Palästinenser. Außerdem auf der Liste: die deutsche Linksterroristin Ulrike Meinhof. Nur wenige hundert Meter entfernt vom Ort der Geiselnahme tritt ein Krisenstab zusammen. Bayerns Innenminister Bruno Merk (CSU) übernimmt die Leitung, Polizeipräsident Schreiber ist sein wichtigster Ansprechpartner. Auch Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), der eigentlich die Spiele besuchen wollte, redet mit. Den ganzen Tag herrscht ein großes Kommen und Gehen, was ein entschlossenes Krisenmanagement nicht gerade erleichtert. Immerhin gelingt es den Verantwortlichen, den Terroristen immer wieder neue Ultimaten abzuringen, ohne dass weitere Geiseln erschossen werden.
Die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir hat den Deutschen bereits am Morgen mitgeteilt, dass ihr Land keinen einzigen Palästinenser aus einem israelischen Gefängnis freilassen wird. Andernfalls, so Meir, wäre kein Jude auf der Welt mehr vor solcher Erpressung sicher.[5] Der Krisenstab entwirft daraufhin Szenarien für eine Geiselbefreiung, stößt aber schnell an praktische Grenzen. Es fehlt an geschulten Kräften für einen solchen Spezialeinsatz und an Ausrüstung. Angebote der Israelis, ihre eigene Sondereinheit nach München zu schicken, lehnt die deutsche Seite ab. Der Einsatz ausländischer Sicherheitskräfte auf deutschem Boden würde gegen das Grundgesetz verstoßen.
Andere Überlegungen des Krisenstabes, wie man die Geiselnahme schnell beenden könnte, nehmen groteske Züge an. Unter anderem gibt es da den Plan, als Athleten verkleidete Polizisten könnten das Haus Connollystraße 31 stürmen und die Geiseln befreien. Im Shop des Sportartikelherstellers Puma im olympischen Dorf holen sich die Beamten Trainingsanzüge, Sportschuhe und Shirts – leihweise, gegen schriftliche Rückgabegarantie. Als sie auf den Dächern ringsum in Stellung gehen, können die Terroristen das jedoch live im Fernsehen mitansehen. Niemand hat den Kamerateams das Filmen verboten. Die Aktion wird abgebrochen.
Missglückter Befreiungsversuch in Fürstenfeldbruck
Am späten Nachmittag ändern die Geiselnehmer überraschend ihre Forderungen. Ihr Anführer Issa, der den Tag über mit den deutschen Verantwortlichen vor der Eingangstür verhandelt, verlangt nun, mit seinen Leuten und den Geiseln nach Ägypten ausgeflogen zu werden. Kurz zuvor hatte das IOC die sportlichen Wettkämpfe unterbrochen. Immer heftiger waren die internationalen Proteste geworden, man könne doch nicht einfach weitermachen, als wäre da nichts. Unterdessen sucht die Bundesregierung die ägyptische Führung um Hilfe an. Doch Ägypten will die Terroristen nicht aufnehmen. „We do not get involved“, wird Bundeskanzler Willy Brandt beschieden. Damit ist klar: Die Geiselnahme muss auf deutschem Boden beendet werden.
Mit zwei Hubschraubern fliegen Palästinenser und Geiseln um 22.35 Uhr aus dem olympischen Dorf zum Bundeswehr-Fliegerhorst nach Fürstenfeldbruck. Dort ist eine Stunde zuvor eine Lufthansa-Maschine gelandet, in der als Crew verkleidete Polizisten warten. Sie sollen, so der Plan, die Geiselnehmer beim Betreten der Maschine überwältigen. Doch den Beamten wird schnell klar, dass es sich um ein Himmelfahrtskommando handelt. Keiner von ihnen ist für solch einen riskanten Nahkampf gegen schwerbewaffnete Terroristen ausgebildet. Die Polizisten verweigern den Befehl und steigen aus. Ihre Vorgesetzten zeigen dafür Verständnis.[6]
Kaum sind die Hubschrauber in Fürstenfeldbruck gelandet, eskalieren die Ereignisse. Issa und sein Stellvertreter Tony laufen zur Lufthansa-Maschine, die sie ja angeblich nach Ägypten fliegen soll – und finden sie leer vor. Ihnen wird wohl klar, dass es sich um eine Falle handelt. Auf ihrem Rückweg zu den Hubschraubern beginnt ein Feuergefecht mit der Polizei, das – mit Pausen – mehrere Stunden andauert. Bei den Sicherheitskräften läuft schief, was schieflaufen kann. Bis zuletzt gehen sie von weniger als den tatsächlich acht Attentätern aus – die korrekte Zahl wird aus dem olympischen Dorf nicht nach Fürstenfeldbruck übermittelt.
Panzerfahrzeuge, mit denen die Geiseln direkt aus den Hubschraubern evakuiert werden sollen, bleiben im Stau der Gaffer vor dem Fliegerhorst stecken. Die sogenannten Scharfschützen – meist handelt es sich um einfache Münchner Streifenpolizisten, die intern als gute Schützen galten – sind schlecht postiert und liegen zum Teil in der Schusslinie der eigenen Kameraden.
Die Terroristen ermorden die neun Geiseln, die in den Hubschraubern aneinandergefesselt sind, mit Salven aus ihren Schnellfeuerwaffen und zünden auch eine Handgranate. Neben den Israelis stirbt im Tower der Polizist Anton Fliegerbauer. Auch fünf Terroristen werden in Fürstenfeldbruck getötet; drei weitere werden leicht verletzt festgenommen.
Reaktionen auf die Nachricht vom Tod der Geiseln
Zu allem Überfluss verbreitet sich in der Nacht die fatale Falschmeldung, dass alle Geiseln befreit wurden. Am Haupttor des Fliegerhorstes, vor dem Dutzende Journalisten ausharren, hatte ein Mann sich als Mitarbeiter des Olympiapressechefs Hans Klein ausgegeben und die vermeintlich gute Nachricht verkündet. Fernsehsender in aller Welt berichten vom angeblich glimpflichen Ausgang des Dramas. Im olympischen Dorf bittet das ZDF Bundeskanzler Brandt, den Erfolg in einer Fernsehansprache zu verkünden. Doch Brandt hat Bauchgrimmen, er will warten, bis Innenminister Genscher ihm den Sachverhalt persönlich bestätigt. Statt des Kanzlers tritt sein Regierungssprecher Conrad Ahlers vor die Kameras von mehreren Fernsehsendern.
Erst am frühen Morgen des 6. September erfährt die Welt die fürchterliche Wahrheit. In einer improvisierten Pressekonferenz teilen die deutschen Verantwortlichen 600 entgeisterten Journalisten mit, dass die Befreiungsaktion gescheitert ist. Beim amerikanischen Fernsehsender ABC wird Moderator Jim McKay live auf Sendung von Schock und Traurigkeit übermannt. Dann sammelt er alle Kraft für einen Monolog, der in die TV-Geschichte eingeht: „Als ich ein Kind war, hat mein Vater immer gesagt, dass unsere größten Hoffnungen und unsere schlimmsten Ängste selten Realität werden. Heute Nacht sind unsere schlimmsten Ängste Realität geworden. Es gab elf Geiseln. Zwei wurden in ihren Zimmern ermordet. Neun wurden am Flughafen umgebracht. Sie sind alle tot.“ They’re all gone.[7]
Noch weiß kaum jemand, wie sich die Dinge genau zugetragen haben. Die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir dankt Bundeskanzler Willy Brandt zunächst in einem diplomatisch-höflichen Telegramm für den Einsatz der Deutschen.[8] Doch die israelische Bevölkerung ist misstrauischer gestimmt, weist doch der Überfall auf die Olympia-Mannschaft Israels unwillkürlich zurück in die Zeit vor 1945: Wieder sind Juden auf deutschem Boden ermordet worden. Selbst bei gemäßigten Kräften in der israelischen Regierung kippt die Stimmung, als Zvi Zamir dem Kabinett seinen Bericht abliefert. Der Mossad-Chef war noch während der Geiselnahme nach München geflogen und hatte die Arbeit des Krisenstabes und der Polizei bis zum bitteren Ende in Fürstenfeldbruck aus nächster Nähe verfolgt.
Zunächst habe er ja noch an „die gut geölte deutsche Maschine“ geglaubt, sagt Zamir. „Sie wollten das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen, um die Olympischen Spiele fortsetzen zu können.“ Doch dann habe sich offenbart, dass die deutschen Verantwortlichen planlos, chaotisch und überfordert gewesen seien. Zamirs Empörung gipfelt in dem Satz: „Sie haben nicht einmal einen minimalen Versuch unternommen, Menschenleben zu retten.“ Nicht das kleinste Risiko seien die Krisenmanager eingegangen, „um die Menschen zu retten, nicht ihre und nicht unsere“.[9]
Die Freipressung der Attentäter – ein Deal zwischen der Bundesregierung und den Palästinensern?
Ganz Israel ist empört. Das komplette Versagen der deutschen Polizei, Behörden und Politik wird das deutsch-israelische Verhältnis auf Jahre hinaus belasten. Unter den Gefrierpunkt sinkt es ab, als die drei überlebenden Terroristen nur 54 Tage nach ihrer Festnahme aus deutscher Haft freigepresst werden, als Gesinnungsgenossen eine Lufthansa-Maschine nach Zagreb entführen. Binnen weniger Stunden lassen die Deutschen das Terror-Trio frei. Es wird nach Tripolis ausgeflogen, wo ihm Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi und Zehntausende jubelnde Araber einen triumphalen Empfang bereiten.
Vieles spricht heute dafür, dass dahinter ein heimlicher Deal der Bundesregierung mit der palästinensischen Führung gesteckt haben könnte. Aus britischen Diplomatenkreisen verlautete schon bald, deutsche Sicherheitsbehörden hätten Kenntnis von einer bevorstehenden Flugzeugentführung gehabt. Die Ausweisungsverfügungen für die drei Inhaftierten waren bereits eine Woche vor der Entführung erlassen worden. Die Deutschen, so die These, erkauften sich so die Zusage der Palästinenser, die Bundesrepublik vor weiteren Anschlägen zu verschonen. Auch Hans-Jochen Vogel hielt einen solchen Deal im Rückblick für möglich.[10]
Aufarbeitung des Attentats: 40 Jahre Verdrängung
Eine einzige echte, schnelle Konsequenz wurde aus dem Olympia-Attentat gezogen: Am 26. September fasste der Bundestag den Beschluss zur Gründung der Antiterroreinheit GSG 9 (Grenzschutzgruppe 9), die dann im Oktober 1977 die Geiseln aus der von Palästinensern entführten Lufthansa-Maschine „Landshut“ befreite. Der erste Kommandant war der Polizeioffizier Ulrich Wegener, der während des Anschlags Bundesinnenminister Genscher als Adjutant gedient hatte. Noch in jener Nacht hatte Wegener bei Genscher auf die Einführung von Spezialkräften gedrängt; der Minister hatte die Idee dann noch am 6. September in einer Sondersitzung des Brandt-Kabinetts vorgestellt.
Das Versagen von München endete freilich nicht mit dem Tod der zwölf Opfer, es setzte sich noch lange fort. Bis heute hat kein Untersuchungsausschuss, nicht einmal eine Historikerkommission den Anschlag gründlich aufgearbeitet. Dabei ist das Olympia-Attentat in seiner globalen Wirkmächtigkeit aus heutiger Sicht nur vergleichbar mit dem 11. September 2001 in den USA. In München trat der internationale Terrorismus ins Bewusstsein der Menschen, als kollektive Live-Erfahrung. Im Fernsehen, das die Olympischen Spiele erstmals live in alle Winkel der Erde sendete, entfaltete sich das Unheil Stunde um Stunde vor den Augen der Welt.
Die Hinterbliebenen der Opfer richteten viele Fragen an die Verantwortlichen, doch Antworten erhielten sie jahrzehntelang nicht wirklich. Auch ihr Wunsch nach angemessener Entschädigung oder einem offiziellen Wort des Bedauerns blieb lange Zeit unerfüllt. Die Deutschen wollten zur Tagesordnung übergehen und das Massaker möglichst schnell vergessen machen. Selbst ein würdiger Gedenkort im Münchner Olympiapark wurde erst nach vierzig Jahren beschlossen – vermutlich, weil die Verantwortlichen von damals ihre törichten Fehler nicht auch noch zur Schau stellen wollten.
Ein Erinnerungsgedenkort für die Opfer des Attentats
Erst eine neue Generation deutscher Politiker löste den Knoten. Ankie Spitzer, die Sprecherin der Opferfamilien, hebt auf bayerischer Ebene die Hilfe des damaligen Ministerpräsidenten Horst Seehofer, des Kultusministers Ludwig Spaenle und des zuständigen Staatsbeamten Werner Karg hervor.[11] Der Gedenkort, in einen Hügel des Oberwiesenfelds eingebettet und mit modernster Videotechnik ausgestattet, wurde am 6. September 2017 eröffnet. Die kleine Ausstellung erzählt nicht nur vom schrecklichen Tod der zwölf Opfer, sondern auch auf berührende Weise von deren Leben. An den Fechttrainer Andrei Spitzer, Ankie Spitzers Mann, erinnert unter anderem eine 3D-Projektion eines Stofftiers mit Blutflecken: Den Olympiadackel Waldi hatte Andrei Spitzer vor dem palästinensischen Überfall für seine Tochter Anouk gekauft.
Bei der Einweihung übernahm Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – in Gegenwart seines israelischen Amtskollegen Reuven Rivlin – erstmals offiziell Verantwortung für die deutschen Versäumnisse. „Zur Wahrheit von 1972 gehört“, sagte er, „dass das aufrichtige Bemühen, dem Publikum ein weltoffenes, friedliches und friedfertiges Deutschland zu präsentieren, auf tragische Weise scheiterte“.[12]
Die Organisatoren der Spiele und die Vertreter des deutschen Staats hatten 1972 beste Absichten – und die naive Zuversicht, dass nichts und niemand ihr olympisches Friedensfest stören würde. Durch genau diese Arglosigkeit und Fahrlässigkeit haben sie zum Unglück des Anschlags beigetragen.
Das Olympia-Attentat gilt vielen als die womöglich dunkelste Stunde in der Geschichte der Bundesrepublik. Natürlich hat das Blutbad die Erinnerung an die „heiteren Spiele“ überschattet, aber eben nicht ganz verdeckt. Auch den „heiteren Spielen“ kommt historische Bedeutung zu, weil sich in ihnen der politische und gesellschaftliche Wille ausdrückte, die junge deutsche Demokratie zum Erfolg zu führen. Dennoch gilt es ein halbes Jahrhundert danach, den Wunsch der Hinterbliebenen der israelischen Opfer zu respektieren, dass das Jahr 2022 in Deutschland nicht zuvorderst als Jubiläumsjahr gefeiert wird. Sondern als Gedenkjahr begangen.