Themenforum Migration in München

BLZ

Stadtgeschichte als Migrationsgeschichte – am Beispiel Münchens (bis 1945)

von Michael Stephan

Bild: Von etwa 6.100 Straßennamen in München kann man in 80 Fällen den namensgebenden Persönlichkeiten einen „Migrationshintergrund“ zusprechen.
Seit 1899 erinnert in Schwabing-West eine Straße (hier das Schild an der Farinelli-Grundschule) an den italienischen Sänger Farinelli, geboren als Carlo Broschi (1705–1782), der in den Jahren 1728 und 1729 Gastspiele in München gegeben hat.
Stadtarchiv München, FS-STR-1764

Migration als historisches Thema
Der Begriff „Migration“ wird in der Regel als aktuelles gesellschaftspolitisches Phänomen betrachtet, hat aber in letzter Zeit auch als historisches Thema verstärkt Konjunktur gewonnen. Doch die Geschichte der Migration setzt, egal ob man Deutschland als Ganzes oder ein Bundesland wie Bayern oder – wie in diesem Beitrag – nur eine Stadt wie München1 in den Blick nimmt, meist erst nach dem Zweiten Weltkrieg an und wird dabei in vier unterschiedliche Phasen eingeteilt.
 
München spielt zunächst nach 1945 bei der Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen eine wichtige Rolle, wobei in unserem Zusammenhang ein besonderes Augenmerk auf die „Displaced Persons“ fällt, die nicht in ihre Heimatländer zurückkehren konnten oder wollten.2 Die große Gruppe der Ukrainer, von denen 1947 etwa 6000 in München lebten, haben hier ein besonderes Verhältnis zu München entwickelt.3 München wurde zudem für lange Zeit ein Standort für amerikanische Soldaten und eine wichtige Drehscheibe im Kalten Krieg.
 
Dann folgt die Phase der so genannten Gastarbeiter, die seit Mitte der 1950er Jahre vom „Wirtschaftswunderland“ Deutschland gezielt mit der Aussicht auf bessere Lebensbedingungen angeworben wurden.4 Das erste Anwerbeabkommen wurde 1955 mit Italien geschlossen, es folgten weitere mit Spanien und Griechenland (1960), mit der Türkei (1961), mit Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und Jugoslawien (1968), bis 1973 ein Anwerbestopp verfügt wurde.5
 
Einen dritten Abschnitt bildet die Phase nach 1990, als mehr als 200.000 so genannte „jüdische Kontingentsflüchtlinge“ aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland kamen. Dies vergrößerte nicht nur die jüdische Gemeinschaft auch in München, sondern hat sie maßgeblich gewandelt.6
 
Die bislang letzte Phase ist bis heute ganz aktuell von der Aufnahme vieler Flüchtlinge aus aller Welt geprägt, die hier Asyl suchen.7
 
Aufgrund dieser historischen Tatsachen der letzten 75 Jahre ist Deutschland, ist Bayern – auch wenn dies lange geleugnet wurde – ein Einwanderungsland geworden. Heute leben in München 27,6 % Ausländer aus über 190 Ländern. Zählt man die Münchnerinnen und Münchner hinzu, die über eine deutsche Staatsbürgerschaft verfügen, aber einen Migrationshintergrund haben, dann beträgt die Quote der Bürger mit ausländischen Wurzeln 43,1 % (Stand: Juli 2020). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts präsentiert sich die Bevölkerung hier als ein buntes Gemisch unterschiedlichster Ethnien, Volkszugehörigkeiten, Religionen, Sprach- und Kulturwelten. Die Vielgestaltigkeit der Lebenswirklichkeiten in unserem Land – und somit auch in unserer Stadt – ist eine Tatsache, die unumstößlich und unumkehrbar ist.
 
Die Geschichte der Stadt München ist aber auch in der Zeit bis 1945 von Migration geprägt, und wenn dies vielleicht auch nicht so deutlich der Fall sein mag wie nach 1945, so ist in ihren Ausprägungen dennoch ein Kontinuum zu erkennen. Im Folgenden werden einige historische Tatsachen und Entwicklungen der Münchner Stadtgeschichte seit der zweiten Hälfte des 16. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts exemplarisch unter dem Aspekt der Migration beleuchtet, wobei der Schwerpunkt auf die so genannten „Welschen“ in München gesetzt wird und weitere Migrationsgeschichten eher kursorisch erzählt werden.8
 
„Welsche“ in München
Ein wichtiger Faktor, der in München die Migration beförderte, war die Heirats- und Personalpolitik des bayerischen Hofes, was immer auch für Konflikte und Spannungen mit der Bürgerschaft sorgte. München war erst Anfang des 16. Jahrhunderts unter Herzog Albrecht IV. zur Haupt- und Residenzstadt des wiedervereinigten Herzogtums Bayern und damit zum wichtigsten fürstlichen Zentralort des Landes geworden. Der Ausbau der Residenz vor allem unter Herzog Maximilian I. (1598–1651, seit 1623 Kurfürst), damals neben dem Kaiser der mächtigste deutsche Fürst, ist sichtbares Zeichen dieser neuen Stellung Münchens, die den Besuchern der Stadt demonstrierte, dass sie neben Rom, Wien und Madrid inzwischen zu den Mittelpunkten der katholischen Welt gehörte.
 
Der Machtzuwachs der erstarkten bayerischen Fürsten zeigte sich auch in ihrer Attraktivität für ausländische Prinzessinnen. Im Jahre 1568 heiratete Herzog Wilhelm V. (1548–1626) Renata (1544–1602), die Tochter von Herzog Franz I. von Lothringen; Kurfürst Ferdinand Maria (1636–1679) heiratete 1652 Henriette Adelaide (1636–1676), die Tochter von Herzog Viktor Amadeus I. von Savoyen; und ihr gemeinsamer Sohn Max Emanuel (1662–1726) nahm in zweiter Ehe Therese Kunigunde (1676–1730), die Tochter von König Johann III. Sobieski von Polen (1629–1696), zur Frau. Alle diese Bräute brachten jeweils ein kleines Gefolge aus ihrer Heimat mit nach München, die von den Einheimischen wegen ihrer romanischen Sprache generell als „Welsche“ tituliert wurden, wobei der Ausdruck sowohl in neutraler als auch in abwertender Weise verwendet wurde. Die Lothringer kamen mit Renata, die Italiener mit Henriette Adelaide (deren Anteil an Hofdamen betrug 27 %), die Franzosen (36%) und Polen (5 %) hingegen mit Therese Kunigunde. Im Gefolge waren auch Priester oder Mönche (als Beichtväter), Schneider, Köche und viele andere mehr. Zusätzlich versuchten ausländische Adelige im Schlepptau der Bräute ihr Glück zu machen. Wenn es nicht möglich war, direkt am Hof eine Anstellung oder zumindest eine bezahlte Aufgabe zu finden, ließ man sich in der direkten Nachbarschaft zur Münchner Residenz nieder. Das Kreuzviertel wurde zum Viertel der Adelspalais, und schaut man sich die Namen der Besitzer an, die im weiteren Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts dort eingezogen sind, könnte man auch flapsig von Münchens „Little Italy“ sprechen: Arco, Simeoni, Minucci, Rambaldi, Porcia, Spreti, Piosasque, Nogarola, Pistorini, Capri, Vacchieri, Cetto, Guidobono-Cavalchini, Triva, Pocci und Maffei. Einige machten steile Karrieren in der bayerischen Armee wie z.B. Alessandro Marchese di Maffei (1662–1730) oder Fabricius von Pocci (1766–1844), der Vater des berühmten „Kasperlgrafen Franz von Pocci.
 
Über den herzoglichen bzw. kurfürstlichen Hof kamen seit der Mitte des 16. Jahrhunderts auch viele Künstler aus Italien nach München. Im Bereich der Musik ist der bekannteste Name der in Italien geschulte Orlando di Lasso (1532–1594); er trat 1557 als Musiker in bayerische Dienste und wurde 1563 Leiter der Münchner Hofkapelle; 1558 heiratete er die Münchnerin Regina Wagginger, mit der er viele Kinder hatte. Im Bereich der bildenden Kunst traf man in dieser Zeit in München viele florentinische bzw. florentinisch geschulte Künstler an. Zu diesen gehörten Hubert Gerhard, Friedrich Sustris oder Carlo Cesare del Palagio.
 
Einen erneuten Kulturaufschwang bewirkte dann Henriette Adelaide aus Savoyen. Als sie 1652 in München einzog, kam mit ihr auch der italienische Barock in die durch den Dreißigjährigen Krieg stagnierende und schon wieder etwas verschlafene Residenzstadt München. Sie versammelte viele italienische Künstler, Baumeister und Musiker um sich und wirkte in vielerlei Hinsicht anregend auf das kulturelle Leben. 1657 öffnete das von Franceso Santurini gebaute erste Opernhaus am Salvatorplatz seine Pforten. Es war der erste selbständige Theaterbau Deutschlands. Von nun wurde auch die italienische Oper unter dem Hofkomponisten Ercole Bernabei in München heimisch. Im Grunde kamen damals alle Sängerinnen und Sänger aus Italien.
 
Markantestes Beispiel der Italienisierung und Barockisierung Münchens ist die Theatinerkirche St. Kajetan, die zum Dank für die Geburt des Thronfolgers Max Emanuel ab 1662 errichtet wurde. Baumeister war der aus Bologna stammende Agostino Barelli, der sich weitgehend am Vorbild der römischen Theatinerkirche San Andrea della Valle orientierte. An dieser Kirche arbeiteten sich gleich mehrere Architekten und Baumeister ab: Antonio Spinelli, Enrico Zucalli, Giovanni Nicoló Perti sowie Giovanni Antonio Viscardi, und erst 100 Jahre nach Kirchenweihe 1675 vollendeten Vater und Sohn François de Cuvilliés die Fassade im Rokoko-Stil. In die barocken Bauplanungen bezog man mehr und mehr (nach italienischem Vorbild) auch den ländlichen Bereich um München mit ein. So ließ Kurfürst Ferdinand Maria für seine Frau nach dem Vorbild der Villa Reale in Turin von Agostino Barelli Schloss Nymphenburg bauen.
 
Viele der am Hof angestellten ausländischen Künstler, Handwerker und Gewerbetreibenden standen unter Hofschutz. Dieser sicherte ihnen die Befreiung von bürgerlichen Pflichten und allen steuerlichen Abgaben an die Stadt zu und verschaffte ihnen viele weitere Vorrechte wie die Befreiung vom Zunftzwang. Das sorgte natürlich oft für Neid und böses Blut unter den einheimischen bürgerlichen Kollegen.
 
Dafür nur ein Beispiel: Als in der Nacht vom 9. auf den 10. April 1674 durch die Unachtsamkeit einer französischen Kammerfrau in der Residenz ein großer Brand ausbrach, konnten sich die Kurfürstin Henriette Adelaide, ihre Kinder und ihre Entourage nur mit knapper Not retten. Der Brand beendete für einige Zeit die Theater- und Opern-Vergnügungen. Die damalige Reaktion der Münchner Bevölkerung klingt nicht unbedingt wie aus fernen Tagen: „Das Feuer erlosch, nicht aber, wie uns der Marquis de Beauveau als Augenzeuge berichtet, der Hass des Volkes gegen die Fremden. Die Münchner verlangten nicht nur, dass man die Ausländer alle verbanne, sondern auch, dass die Veranlasserin des Brandes selbst – Mademoiselle de la Perouse – den Flammen überliefert werde. Das war nur eine der vielen Äußerungen des Hasses gegen die Welschen bei Hofe, die man beschuldigte, das Land auszusaugen und derartige Reichtümer nach Italien zu schleppen, dass ihre Landsleute fast geglaubt, das Geld müsse in Bayern auf den Bäumen wie Blätter wachsen.“9
 
Trotz dieser Ressentiments hat man sich in München damals nicht völlig gegen alles „Fremde“ und Ausländische abgeschottet. Eine wichtige Quelle dafür ist das „Bürgerrechts-Register der Stadt München“ der Jahre 1450 bis 1745.10 Danach wurde allein zwischen 1600 und 1700 an 15 Savoyarden und an 31 Italiener das Münchner Bürgerrecht verliehen. Allerdings handelte der Münchner Stadtrat bei den Bürgerechtsaufnahmen oft auf Druck der wittelsbachischen Stadtherren. Dadurch gelangten auch neue Familien mit Migrationshintergrund zu Patrizierstatus und zu einem Bürgermeisteramt, so z.B. Matthias Barbier (1673), Johann Maximilian von Alberti (1695) oder Max Joseph Vacchieri (1715).11
 
1780 waren von 58 Münchner Kaufleuten nicht weniger als 34 Ausländer, darunter die Familien Cler, Ossinger, Brentano, Fimal, Ruffini, Massari, Morassi, Pasqual, Divora, Maffei, Sabbadini oder Tambosi, um nur einige zu nennen. Viele dieser Familiengeschichten lesen sich wie erfolgreiche Aufsteigergeschichten, und deren Angehörige zählten oft schon ab der zweiten Generation zu den einflussreichen Persönlichkeiten dieser Stadt.
 
Drei exemplarische Aufsteigergeschichten
Die aus Trient stammende Familie Dall’Armi besaß um 1800 eines der bedeutendsten Handelshäuser in München. Andreas Michael (seit 1792: von) Dall’Armi (1765–1842) legte im Jahr 1786 mit der ersten Ehe mit Maria Elisabeth Nockher, Erbin einer aus Tirol stammenden Bankiersfamilie in München, sogar den Grundstock für das zeitweilige Alleinstellungsmerkmal der beiden Häuser am Finanzplatz München.12 Andreas von Dall’Armi ist aber nicht als erfolgreicher Geschäftsmann in Erinnerung in der Münchner Stadtgeschichte geblieben, sondern dadurch, dass er im Oktober 1810 als Major der Nationalgarde das Pferderennen aus Anlass der Hochzeit von Kronprinz Ludwig mit der sächsischen Prinzessin Therese organisiert hat; er gilt daher als einer der Begründer des alljährlichen Oktoberfestes auf der Theresienwiese. Dafür erhielt er 1824 als erster Münchner die damals neu eingeführte Goldene Bürgermedaille der Stadt.
 
Auch Johann Baptist (seit 1837: von) Zenetti (1785–1856), Regierungspräsident und 1847 kurzzeitig Innenminister, kann als Musterbeispiel einer durch wirtschaftlichen Aufstieg gelungenen Integration einer nach Bayern eingewanderten Familie bezeichnet werden. Sein Vater war noch als Giovanni Battista Zanetti aus Ravascletto nach Schwaben gekommen und führte ab 1764 in Wertingen eine erfolgreiche Handelsgesellschaft. Von Zenetti sind handschriftliche Lebenserinnerungen überliefert, in denen er in der Beschreibung seines Vaters (der zu Lebzeiten immer als „Welscher“ bezeichnet wurde) gerade diesen integrierenden Effekt besonders betont: „Wiewohl er mit den Seinigen nur italienisch sprach, so konnte er doch so gut deutsch, dass man in ihm kaum den Italiener gewahr wurde, sprach er nur den schwäbischen Dialekt.“13 Auch die Söhne Zenettis machten sich in München einen Namen: Arnold (1824–1891) wurde Stadtbaurat, Benedikt (1821–1904) war Abt des Münchner Klosters St. Bonifaz. Und Schwester Caroline (1825–1896) ist die Ahnin des späteren Münchner Oberbürgermeisters Hans-Jochen Vogel (1926–2020).
 
Und auch in der Herkunft des Münchner Stadtarchivars Ernst von Destouches (1843–1916) verbirgt sich eine Zuwanderungs- und Aufstiegsgeschichte.14 Sein Ururgroßvater Claudius Destouches (1691–1741) kam zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Perückenmacher aus Frankreich nach München und fand eine Stellung als Kammerdiener des bayerischen Kurfürsten. Der Urgroßvater Joseph Anton Claudius Destouches (1732–1795) war bereist studierter Jurist und brachte es bis zum Hofkammerrat. Der Großvater Joseph Anton (1767–1832), ebenfalls Jurist, wurde als Mitglied des Inneren Rats vom Kurfürsten 1787 ins Patriziat erhoben und führte das Adelsprädikat „von“. Der Vater Ulrich (1802–1863) war Redakteur und Schriftsteller, vor allem aber erster städtischer Bibliothekar und erster Stadtchronist, und damit auch der direkte Vorgänger seines Sohnes Ernst.
 
Erste Türken in München
Im Gefolge der Feldzüge, die Kurfürst Max Emanuel an der Seite des Kaisers gegen das türkische Heer auf dem ungarischen Kriegsschauplatz bis 1688  führte, wurden rund 1000 türkische Gefangene (darunter auch Frauen und Kinder) nach Bayern, insbesondere nach München, verbracht.15 Sie wurden zunächst in Kasernen untergebracht und zu Fabrikarbeit, Rodungen und Kanalbau eingesetzt. Am kurfürstlichen Hof und in vielen Adelshäusern waren junge Türken als Pagen und als Dienstpersonal, z.B. als Sänftenträger, beschäftigt. Adel, Bürgerschaft und Geistlichkeit bemühten sich auch, die muslimischen Gefangenen bzw. Bediensteten zum christlichen Glauben zu führen. Die Münchner Taufbücher verzeichnen die Taufen von jüngeren und älteren Türken in erheblicher Zahl. Nach dem Friedensschluss 1699 durften die türkischen Gefangenen in ihre Heimat zurückkehren. Von einem der Türken, die in München blieben, wissen wir mehr. Er hatte mit Kurfürst Max Emanuel einen prominenten Taufpaten und hieß nach seiner Taufe durch einen Pfarrer von St. Peter am 18. August 1684 Anton Achmet. Auf Befehl des Kurfürsten vom 1. Januar 1688 erhielt er im Hofstall als Maultierknecht seine erste Anstellung. In dem vom Hofzahlamt geführten Besoldungsbuch (eine wichtige Quelle nicht nur für die ausländischen Hofbediensteten) wird er zum Jahr 1688 mit dem Namen „Anthoni Machomet“ eingetragen – „ein gewester Türkh, anjetzt aber ein Christ“.16 Anton Achmet taucht noch zweimal in den Pfarrmatrikeln von St. Peter auf: bei seiner Hochzeit mit der Münchnerin Kunigunde Ertman am 12. Januar 1688 und bei seinem Tod am 17. April 1727.17
 
Erste Griechen in München
Die Existenz einer ersten kleinen griechischen Bevölkerungsgruppe in München verdankt sich dem Philhellenismus König Ludwigs I. (regierte 1825–1848), der die Griechen in ihrem Freiheitskampf gegen die Türken aktiv unterstützte und Kinder von gefallenen griechischen Freiheitskämpfern in München erziehen ließ. Nachdem auch Kinder vermögender Griechen zur Ausbildung nach München geschickt wurden, lebten bei Jahresende 1828 schon 40 Kinder und Jugendliche hier, die in einem griechischen Erziehungsinstitut oder im Kadettenkorps unterrichtet wurden. Den Religionsunterricht erteilte ein griechisch-orthodoxer Geistlicher. Von 1826 bis 1844 studierten fast 100 griechische Studenten an der Münchner Universität, die später z.T. wieder nach Griechenland zurückkehrten, das von 1832 bis 1862 von Ludwigs Sohn Otto als König regiert wurde, und am Aufbau ihres Landes mitwirkten.18 Schon 1828 bestimmte Ludwig I. die Kirche St. Salvator zum Gottesdienstort der griechischen Kirche, die noch heute den Namen „Griechische Kirche zum Erlöser“ trägt und von der griechisch-orthodoxen Kirchengemeinde genutzt wird.19
 
Weitere Migrationsgeschichten
Man könnte in diesem Zusammenhang noch viele Migrationsgeschichten über München erzählen – von ganzen Volksgruppen oder von Schicksalen einzelner Ausländerinnen und Ausländer. Dazu gehören berühmte Einzelpersönlichkeiten wie die englische Ordensschwester Mary Ward (1585–1645), die unter der Protektion von Kurfürst Maximilian I. von Bayern ein Kloster der Englischen Fräulein aufbaute und damit die erste Bildungsanstalt für Mädchen in München aufbaute. Oder man denke an den Amerikaner Benjamin Thompson (1753–1814), der in München als Graf Rumford „Rezepte für ein besseres Bayern“ ersann.20
 
Zu dem Faszinosum, aber auch zu der Irritation, die das „Fremde“ oft auslöst, gehört auch die Geschichte der Lola Montez, der „spanischen Tänzerin“, und ihr Liebesverhältnis zu König Ludwig I., das zu heftigen Reaktionen in der Münchner Gesellschaft führte und letztendlich dem König 1848 den Thron kostete.21
 
Auch Erfolgsgeschichten von nicht ganz so berühmten Personen müssten zur Sprache kommen – wie die von Peter Paul Sarcletti, der 1879 sein erstes selbstgemachtes Speiseeis in München verkauft hat. Heute verkauft die Familie Sarcletti in vierter Generation immer noch Eis – seit 1921 am Rotkreuzplatz in Neuhausen.
 
Ganz wichtig für den baulichen Ausbau der Stadt München zwischen 1860 und 1914 waren die Ziegelarbeiter aus dem Friaul, von denen jährlich etwa 3.000 saisonal im Münchner Osten beschäftigt waren und immerhin ein Drittel des ersten katholischen Arbeitervereins in München ausmachten.22
 
Ein eigenes Kapitel wären die Studierenden, Künstler und auch Revolutionäre, die aus dem Russischen Reich (und vielen anderen europäischen Ländern) zwischen 1890 und 1914 nach München kamen und das ihre zum mythischen Schmelztiegel Schwabing beitrugen.23
 
Ein weiteres, in den letzten Jahren gut erforschtes Kapitel in der Migrationsgeschichte und damit der Stadtgeschichte Münchens ist schließlich der Zwangsarbeitereinsatz während des Zweiten Weltkriegs. Mehr als 100.000 Ausländer – Männer, Frauen und auch Kinder – aus 25 Nationen und Volksgruppen arbeiteten unfreiwillig zwischen 1939 und 1945 im Raum München.24
 
Fazit
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge definiert Migration wie folgt: „Von Migration spricht man, wenn eine Person ihren Lebensmittelpunkt räumlich verlegt. Von internationaler Migration spricht man dann, wenn dies über Staatsgrenzen hinweg geschieht.“25 Um diese internationale Migration ging es auch in den angeführten historischen Beispielen, konkret aber nur um den Teil der Einwanderung, also den Zuzug nach München. Von den vielfältigen Formen der Migration tauchten in den historischen Skizzen zu Münchens Migrationsgeschichte ganz unterschiedliche Beispiele auf. Die „Verlagerung des Lebensmittelpunktes“ konnte freiwillig geschehen (durch Heirat, Studium oder Arbeit) oder unfreiwillig (durch Flucht, Vertreibung, Kriegsgefangenschaft oder Zwangsarbeit).
 
Ein Kontinuum bei allen Geschichten ist immer auch das nie einfache Verhältnis zwischen Migrantinnen und Migranten einerseits und einheimischer Bevölkerung andererseits, über das sich ein konstanter Spannungsbogen zwischen Anpassungsbereitschaft, Integration und Ablehnung spannt. Doch eines kann man in jedem Fall konstatieren: Stadtgeschichte ist immer auch Migrationsgeschichte!


[1] Vgl. Ursula Eymold/Andreas Heusler (Hg.): Migration bewegt die Stadt. Perspektiven wechseln (Münchner Beiträge zur Migrationsgeschichte 1), München 2018. Die neue Publikationsreihe, die aus einem seit 2015 etablierten gemeinsamen Projekt von Münchner Stadtmuseum und Stadtarchiv München entstanden ist und in der mittlerweile vier Bände erschienen sind, belegt, dass das Thema Migration in den beiden Münchner Gedächtniseinrichtungen seinen festen Platz gefunden hat.
[2] Vgl. Angelika Fox: Flüchtlinge und Vertriebene in München nach 1945, in: Angela Koch (Hg.): Xenopolis. Von der Faszination und Ausgrenzung des Fremden in München, München 2005, S. 307–312; Jutta Fleckenstein/Tamar Lewinsky (Hg.): Von da und dort – Überlebende aus Osteuropa (Erster Teil der Ausstellung „Juden 45–90“ im Jüdischen Museum München), München 2011.
[3] Vgl. Reinhard Heydenreuter: Ukrainer in München, in: Koch (wie Anm. 2), S. 313–318.
[4] Vgl. Franziska Dunkel, Gabriella Stramaglia-Faggion: „Für 50 Mark einen Italiener“. Zur Geschichte der Gastarbeiter in München, München 2000; Franziska Dunkel/Gabriella Stramaglia-Faggion: Gastarbeiter – „Wir waren da und von Gott verlassen“, in: Koch (wie Anm. 2), S. 335–350.
[5] Vgl. Philip Zölls: Regieren der Migration. Von Einwanderungsprozessen und staatlichen Regierungspolitiken (Münchner Beiträge zur Migrationsgeschichte 2), München 2019.
[6] Vgl. Jutta Fleckenstein/Piritta Kleiner (Hg.): Von ganz weit weg – Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion (Zweiter Teil der Ausstellung „Juden 45–90“ im Jüdischen Museum München), München 2012.
[7] Vgl. Florian Fritz: Zwischen Wartesaal und neuer Heimat. Problemlagen und Lebensperspektiven von Flüchtlingen in München, in: Koch (wie Anm. 2), S. 357–370. – Vgl. die Rückblicke zum „Flüchtlingsherbst 2015“ in der Süddeutschen Zeitung vom 30. August 2020 („Bewegende Begegnungen am Hauptbahnhof“) und vom 31. August 2020 („Die schaffen das – Was aus den Flüchtlingen von 2015 wurde“).
[8] Vgl. zum Folgenden: Michael Stephan: Zwischen Türkengraben und Gleis 11. Skizzen zur Münchner Migrationsgeschichte, in: Hans-Joachim Hecker/Andreas Heusler/Michael Stephan (Hg.): Stadt, Region, Migration. Zum Wandel urbaner und regionaler Räume ((Stadt in der Geschichte. Veröffentlichungen des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichte 42), Ostfildern 2017, S. 15–40 (mit weiterführenden Hinweisen und Abbildungen).
[9] Karl Trautmann: Italienische Schauspieler am bayerischen Hofe, 1887, S. 252 f.
[10] Stadtarchiv München, Einwohneramt 186/1–4.
[11] Vgl. Anton Fischer: Die Verwaltungsorganisation Münchens im 16. und 17. Jahrhundert, Diss. masch., München 1951; v.a. Abschnitt B: Die Bürgermeister, S. 109–128, sowie Tabelle IV: Mitglieder des Äußeren Rats 1560–1720 (mit Benennung der Bürgermeister); ders.: Die Verwaltungsorganisation Münchens im 18. Jahrhundert, maschinenschriftliches Manuskript, München 1956, v.a. S. 25 ff.: Die Bürgermeister; im Anhang, S. 202 ff.: Listen der Bürgermeister 1720–1803.
[12] Vgl. Richard Bauer: Die Münchner Bankiersfamilie Nockher und ihr Familienbild von 1791, in: Oberbayerisches Archiv 144 (2020), S. 75–102.
[13] Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Familienarchiv Zenetti 1.
[14] Vgl. Brigitte Huber: Ernst von Destouches (1843–1916). Stadtchronist, Stadtarchivar und Gründer des Münchner Stadtmuseums, in: Oberbayerisches Archiv 142 (2018), S. 53–87.
[15] Vgl. Michael Stephan: Münchens erste Türken – und ein damit verbundenes Missverständnis, in: Turmschreiber 34 (2016), S. 49–51. Das „Missverständnis“ bezieht sich auf die falsch von den Türken abgeleiteten Bezeichnungen wie Türkengraben, Türkenstraße etc.; vgl. auch das Kapitel „Kein Krieg ist heilig! Von Türken und Turquerien“ in: Stefan Jakob Wimmer: München und der Orient, Lindenberg im Allgäu 2012, S. 64–93.
[16] Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Kurbaiern, Hofzahlamt Nr. 726, S. 158.
[17] Vgl. Markus Krischer: Der Mann aus Babadag. Wie ein türkischer Janitschar 1683 nach München verschleppt und dort fürstlicher Sänftenträger wurde, Stuttgart 2014; zur weiteren Geschichte der Türken in München: Andreas Heusler: Vom Türkengraben (1702) zum Anwerbeabkommen (1961). Meilensteine einer bayerisch-türkischen Beziehungsgeschichte, in: Eymold/Heusler (wie Anm. 1), S. 26–33.
[18] Vgl. Konstantin Kotsowilis: Die griechischen Studenten in München unter König Ludwig I. von Bayern (von 1826 bis 1844). Werdegang und späteres Wirken beim Wiederaufbau Griechenlands, München 1995.
[19] Vgl. ders.: Die Griechische Kirche in München als Gotteshaus zum Erlöser, Gemeinde der Hellenen und Mittelpunkt des Bayerischen Philhellenismus, München 1998; Jürgen Kielisch: Die Geschichte der griechisch-orthodoxen Kirchengemeinde zum Erlöser in München 1828–1944 (Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 8), Hamburg 1999.
[20] Vgl. Thomas Weidner (Hg.): Rumford. Rezepte für ein besseres Bayern (Katalog zur Ausstellung im Münchner Stadtmuseum), München 2014.
[21] Vgl. Angela Koch: Die Maskeraden der Lola Montez, in: dies. (wie Anm. 2), S. 67–70; vgl. zuletzt: Marita Krauss: „Ich habe dem starken Geschlecht überall den Fehdehandschuh hingeworfen“. Das Leben der Lola Montez, München 22021.
[22] Vgl. Fritz Lutz: Die friaulischen Ziegelarbeiter im Münchner Osten, 1994; Ulla-Britta Vollhardt: „Die Italiener werden hierher geliefert wie die Orangen“. Italienische Ziegelarbeiter in München zwischen 1871 und 1914, in: Koch (wie Anm. 2), S. 161–178.
[23] Vgl. Dirk Heißerer: Fremde in Schwabing – Schwabing als Fremde, in: Koch (wie Anm. 2), S. 149–152; Ulla-Britta Vollhardt: Im Auge des Gesetzes. Revolutionäre, Studierende und Künstler aus dem Russischen Reich in München 1890–194, in: Koch (wie Anm. 2), S. 161–194; Antonia Voit (Hg.): Ab nach München! Künstlerinnen um 1900 (Katalog zur Ausstellung im Münchner Stadtmuseum), München 2014; zu „Schwabing als Lebensgefühl und Mythos“: Michael Stephan/Willibald Karl: Schwabing, München 2015, S. 58 ff.
[24] Vgl. Andreas Heusler/Mark Spoerer/Helmuth Trischler (Hg.): Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im „Dritten Reich“. Im Auftrag von MTU Aero Engines und BMW Group (Reihe Perspektiven. 3), München 2010; Andreas Heusler: Ausländereinsatz. Zwangsarbeit für die Münchner Kriegswirtschaft 1939–1945 (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt München 1), München 1996; Elisabeth Bösl/Nicole Kramer: „Fremd“-Arbeit. Zum Zwangsarbeitereinsatz in München 1939–1945, in: Koch (wie Anm. 2), S. 293–303.
[25] Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg.): Minas. Atlas über Migration, Integration und Asyl, 8. Ausgabe, Nürnberg 2018 (1. Aktualisierte Fassung: April 2020), S. 23 f.
 

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