Themenforum Migration in München
Migrationsstadt München? Die bayerische Haupt- und Residenzstadt um 1900
von Andreas HeuslerBild: Lehmgrube einer Ziegelei im Münchner Osten (Ölgemälde von Joseph Hahn, 1870); viele italienische Saisonarbeiter, sogenannte „transalpini“, fertigten während der Sommermonate für einen geringen Lohn Ziegel.
Stadtarchiv München, DE-1992-FS-STB-8176
Stadt ist Migration. Und Migration bewegt die Stadt. Das ist heute so und war auch im ausgehenden 19. Jahrhundert stadtgesellschaftliche Realität in München – allerdings in einer weit geringeren Dimension, als zu Beginn des 21. Jahrhunderts.1
Dennoch: Die urbanen Veränderungen und sozioökonomischen Entwicklungen, die München damals zu einer modernen Metropole werden ließen, sind ohne die aktive Mitwirkung, ohne das tätige Engagement von Neubürgerinnen und Neubürgern nicht denkbar. Zuwanderung – verstanden in ihrer ganzen Breite sowohl als Binnen- wie auch als transnationale Mobilität – war nicht nur integraler Bestandteil der städtischen Wachstumsprozesse, sondern gleichsam auch deren Voraussetzung.
Modernisierung und soziale Frage
Folge der Urbanisierung war, dass sich München seit der Gründerzeit auch in eine Stadt der Gegensätze und Dissonanzen, in eine Stadt mit zugespitzter schichtenspezifischer Heterogenität und damit einhergehend problematischer sozialer wie politischer Verwerfungen verwandelte. Der atemberaubende Entwicklungsschub vom beschaulich-dörflichen und selbstzufriedenen „Isar-Athen“ um 1850 zur modernen, auch industriell geprägten Metropole im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zwang die Stadt mit einer gewissen Zeitverzögerung in all jene brisanten Problemfelder hinein, die für andere deutsche und mitteleuropäische Großstädte schon seit langem Normalität waren: Industrialisierung, unkontrolliertes Bevölkerungswachstum, Wohnungsnot und Schlafgängertum, Bildungsnotstand, Verelendungstendenzen innerhalb einzelner Bevölkerungsgruppen, Herausbildung von Randgruppenmilieus in bestimmten Stadtvierteln, Gewaltkriminalität.2
Saisonales Arbeiten und prekäres Wohnen
In seiner 1898 erschienenen Dissertation „Das Schlafstellenwesen in den deutschen Großstädten und seine Reform mit besonderer Berücksichtigung der Stadt München“ zog der Jurist Ernst Cahn eine ernüchternde Bilanz der Lebenssituation von sogenannten Unterprivilegierten um die Jahrhundertwende.3 Cahn, dem weiten Umfeld der bürgerlichen Sozialreformer und „Kathedersozialisten“ zuzurechnen, richtete in seiner Studie den Blick auch auf die „Fremden“ in der Stadt und rückte eine Gruppe in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit: italienische Ziegeleiarbeiterinnen und Ziegeleiarbeiter im Münchner Osten, deren unübersehbar katastrophale Wohnsituation Cahn besonders beeindruckte: „[…] Betreten wir eine Ziegelei in Bogenhausen und sehen uns dort die Schlafstellenverhältnisse an. […] Das Dach dieses Raumes hat einige fensterlose Dehnungen. Die Nachtkälte und die Hitze des Ofens haben zu diesem Raume ungehindert Zutritt. In diesem Raum schlafen 15 – 20 italienische Ziegeleiarbeiter. Der Luftraum pro Person freilich schien ziemlich genügend zu sein. Dagegen waren die Betten in unbeschreiblichem Zustand. Die Bettwäsche starrte vor Schmutz; sie war vielfach zerrissen und abgebraucht; Bettdecken waren nur ungenügend vorhanden. Die Bettstellen waren zum Teil morsch und halbverfallen. An Gebrauchsgegenständen, mit Ausnahme von ein paar Tischen, an jeglichen Waschvorrichtungen fehlte es gänzlich. Die Aborte waren von der Schlafstelle weit entfernt. Zur Aufbewahrung der Kleider etc. diente einem jeden lediglich sein armseliger Koffer. Die anderen Arbeiter waren an anderen Plätzen der Ziegelei untergebracht. Wo gerade ein unbenutzter Raum vorhanden war, da schliefen 4, 5, 6 und 10 Personen. Auch hier überall der gleiche Schmutz, die gleiche Verwahrlosung, der gleiche Mangel an Gebrauchsgegenständen wie im Trockenraum. […].“4
Für die örtliche und regionale Bauwirtschaft waren die transalpini, die während der Sommermonate im Akkord und für kleines Geld für die lokalen Lehmbarone schufteten und die für den Städtebau so wichtigen Ziegel fertigten, unverzichtbar. Im Arbeitsalltag und in der Entlohnung schlug sich diese Bedeutung nicht nieder. Cahns Bestandsaufnahme lässt keinen Zweifel daran, dass die italienischen Saisonarbeiter innerhalb der wachsenden Großgruppe proletarisch Unterprivilegierter ganz unten standen. Als weitgehend rechtlose Tagelöhner und als nur saisonal wahrgenommene Migrantenpopulation, konnten sie als konkurrierende „Fremde“ kaum von der solidarischen Loyalität der erstarkenden deutschen Arbeiterbewegung profitieren. In den Genuss einer sich langsam entwickelnden Sozialgesetzgebung kamen die italienischen Arbeitsmigranten ohnehin nur zögerlich.5
Bevölkerungsstruktur und Identitätsbildung
Die geballte Präsenz ausländische Saisonarbeiter war freilich nur ein temporäres Phänomen. Überhaupt hatte Münchens dynamischer demografischer Strukturwandel in den Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende mit Zuzug aus dem Ausland nur wenig zu tun. Er war vielmehr eine Folge der zunehmenden Binnenmigration aus strukturschwachen bayerischen Landregionen. Transnationale Migrationsbewegungen sind in München in markanter Ausprägung erst am Ende des 19. Jahrhunderts zu beobachten. Gleichwohl waren Migrantinnen und Migranten durchaus schon Teil des großstädtischen Alltags der 1870er Jahre – allerdings in einem überschaubaren Umfang. Eine erste Volkszählung, die auch nichtmünchner, nichtbayerische und nichtdeutsche Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner berücksichtigte, fand 1875 statt.6 Unter den knapp 181.200 in München gemeldeten Personen wurden 5.137 Männer und Frauen mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit ermittelt – dies entsprach einem Bevölkerungsanteil von 3,0 %. Die meisten von ihnen besaßen die österreichische Staatsangehörigkeit (3.461), gefolgt von Schweizern (568), Russen (324), Italienern (258), Briten (143), Franzosen (137) und Dänen (49).
Interessant und aufschlussreich ist vor diesem Hintergrund der Vergleich mit zwei anderen Großstädten: Hamburg und Leipzig. Während 1875 in München die überwältigende Mehrzahl der Bewohnerinnen und Bewohner die bayerische Staatsangehörigkeit besaß (93,9 %) und nur 3,3 % „sonstige Deutsche“ gemeldet waren, lag deren Anteil in Leipzig bei 22,9 % und in Hamburg sogar bei 33,0 %. Diese Zahlen sind ein aussagekräftiger Indikator für eine bemerkenswert homogene, stark bayerische geprägte Münchner Stadtbevölkerung zu jener Zeit und ein erster Hinweis auf eine charakteristische stadtgesellschaftliche Identitätsbildung, die zumindest für die 1870er Jahre dominant ist. Das schon damals gern gerne kolportierte Bild vom altbayerischen Biermekka München, einer Stadt in behaglicher Ruhe und innerer Harmonie mit einer selbstgewissen, aber auch selbstzufriedenen Bewohnerschaft, ist tatsächlich mehr als ein billiges Klischee. Das München jener Jahre war jedenfalls eine Stadt, die weder durch spektakuläre Verschiebungen der Bevölkerungsstruktur aus der Balance geriet, noch durch besondere Weltoffenheit und kulturelle Höhepunkte glänzte. Dies blieb auch zeitgenössischen Beobachtern nicht verborgen: „Abgesehen von Bier ist hier höchstens lebhaftes Interesse für Theater und Kunst – und auch dies nur auf Seiten der Eingewanderten und Fremden. Die einheimische Rasse ist etwas entschieden Kulturfeindliches, deshalb auch dem Untergang Geweihtes – ähnlich wie die Sioux in Nordamerika“, so die ätzende München-Kritik des Nationalökonomen Lujo Brentano aus dem Jahr 1894.7
Wie sehr München von einer zuwanderungsbedingten Frischluftzufuhr profitierte, zeigt die einige Jahre später entstandene Diagnose des Jugendstilpioniers Hermann Obrist, der zu den Gründern der legendären „Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk“ gehörte: „[...] das besondere Aroma der süddeutschen Gemütlichkeit, nämlich die Antipathie und das Mißtrauen gegen neue ‚hergelaufene Leut‘, das hat schöpferische und selbständige Naturen, die sich nach München verirrt und dort Wurzel gefaßt, ehe sie das alles merkten, mit solcher Zentrifugalkraft in die zuerst nicht gewollte Einsamkeit hinausgetrieben, in der sie nun mächtig erstarkten, sich konzentrierter sammelten und zielbewußter im Vereine mit anderen ‚Versprengten‘ schufen, als sie das je in Berlin hätten tun können, wo man sie vor lauter Interesse und Anteilnahme oft gestört hätte. Aus der Vereinsamung befreien kann sie nur das Heranwachsen einer neuen Generation um sie herum, falls sie nicht fortgerufen werden und fortziehen, was von München aus herzlich gern gesehen wird.“8
Diese pointierten Analysen und Zustandsbeschreibungen werfen ein bezeichnendes Licht auf Münchner Befindlichkeiten in den Jahren zwischen 1890 und 1910, zeigen sie doch ein beklagenswertes Faible für kulturelles Mittelmaß, für uninspirierten künstlerischen Durchschnitt, das allenfalls durch Impulse von Zugewanderten auf ein gewisses Niveau gehoben werden konnte. „München ist keine Weltstadt“, konnte man 1905 in einem Kunstführer lesen. „München ist höchstens die weltstädtischste unter den Landstädten“.9
Migration aus Osteuropa
Diese weltstädtische Landstadt erlebte um 1900 auch klassische Migrationsphänomene im Sinne transnationaler Zuwanderung, wie zum Beispiel die sich dauerhaft in der Isarvorstadt niederlassenden jüdischen Zuwanderer aus Osteuropa. Bis zur systematischen Vernichtung jüdischen Lebens in München durch den NS-Terror lag der Anteil der Jüdinnen und Juden aus Osteuropa innerhalb der Israelitischen Kultusgemeinde bei ungefähr einem Viertel. In der Stadtgesellschaft stellten sie insofern eine kaum wahrnehmbare Größe dar. Gleichwohl wurden sie seit den 1920er Jahren zu einem bevorzugten Hassobjekt für antisemitische, rechtsradikale Kreise.
Der Zuzug von Jüdinnen und Juden aus Osteuropa – von Zeitgenossen abwertend gerne als „Ostjuden“ bezeichnet – fand zu drei verschiedenen Zeiten statt und war keineswegs eine Münchner Spezialität, sondern in weitaus stärkerer Ausprägung auch in anderen „westlichen“ Metropolen zu beobachten, insbesondere in Wien und in Berlin.10 Die Motive der um 1880 und danach Zugezogenen waren teils ökonomischer, teils politischer Natur. In vielen osteuropäischen Regionen hatte der durch die Industrialisierung bedingte Strukturwandel zu einer massenhaften Verarmung und zu enormer sozialer Not der dort lebenden Juden geführt. Lebensbedrohlich war auch der Ende des 19. Jahrhunderts wieder aufkeimende Antisemitismus, der immer öfter zu mörderischen Pogromen führte. Die Verlagerung des Lebensmittelpunkts in die prosperierenden und – vermeintlich – sicheren Städte im Westen versprach notleidenden jüdischen Familien die Option auf ein besseres Leben. Eine größere Anzahl jüdischer Zuwanderer kam ab 1905 nach München. Hintergrund waren auch dieses Mal antisemitische Übergriffe und Pogrome in Russland und in Rumänien. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg kamen, dieses Mal ausgelöst durch die territorialen und staatlichen Veränderungen in Osteuropa, weitere jüdische Migrantinnen und Migranten aus diesen Regionen.
Durch diese Zuwanderungen in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende änderte sich nicht nur die Größe, sondern auch die soziale Struktur der jüdischen Gemeinde Münchens spürbar. Wurden noch im Jahr 1867 kaum mehr als 2.000 Juden in der bayerischen Haupt- und Residenzstadt gezählt, so waren es im Jahr 1885 bereits 4.854. Ein Vierteljahrhundert später, 1910, erreichte die Israelitische Kultusgemeinde mit mehr als 11.000 Angehörigen ihren bislang mitgliederstärksten Status. Bei einer Gesamteinwohnerschaft Münchens von rund 600.000 Menschen entsprach dies freilich einem Bevölkerungsanteil von nicht einmal zwei Prozent.
Antisemitismus und Migration
Teile der Mehrheitsgesellschaft begegneten den osteuropäischen Neuankömmlingen mit unverhohlener Ablehnung und rassistischen Zuschreibungen. Dies gilt in besonderem Maße für konservativ-nationalistische und rechtsextrem-antisemitische Kreise, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der „Schmach von Versailles“ in aggressiver Weise gegen die „Ostjudenplage“ mobil machten. „Die Überflutung Deutschlands mit wurzellosen, land- und artfremden Elementen aus Galizien oder den russischen Randstaaten ist in der Tat eine Frage, der jeder ernste Politiker seine Sorge zuwenden muß“, so ein Beitrag im Leitmedium der damaligen Zeit, den Münchner Neuesten Nachrichten.11 Als bayerische Literaturikone fiel bei der antisemitischen Hetze besonders Ludwig Thoma auf, der 1920/21 in mehr als 170 Artikeln im Miesbacher Anzeiger seinem Judenhass Luft machte.12
Innerhalb der jüdischen Gemeinde Münchens reagierten manche mit Zurückhaltung auf die neuen Gemeindemitglieder. Noch wirkten die sozialen, kulturellen und auch liturgischen Unterschiede zwischen eingesessenen und zugewanderten Jüdinnen und Juden in ihrer trennenden Kraft stärker als gemeinsame religiöse Überlieferung und Wertorientierungen. Das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft entwickelte sich später. Max Kalter etwa konstatierte „eine Kluft zwischen den ‚einheimischen‘ deutschen Juden und ‚zugewanderten‘ Ostjuden. In diesen Jahren bis 1914 gab es eine fast vollkommene gesellschaftliche Trennung zwischen deutschen und Ostjuden, teilweise gefördert durch Arroganz mancher deutscher Juden gegenüber den Ostjuden, teilweise durch ein selbst auferlegtes Ghetto, das sich die ostjüdische Bevölkerung selbst schaffte. Einen sozialen und gesellschaftlichen Verkehr zwischen deutschen und Ostjuden gab es kaum. Die ostjüdischen Familien verkehrten nur untereinander. Sie trafen sich in den Kaffeehäusern nur miteinander; sie heirateten nur unter sich“.13 Die Distanz zwischen den beiden jüdischen Gruppen verlor sich erst unter dem Eindruck der antisemitischen Agitation der rechtsextremen Regierung von Kahr und der auch von den eingesessenen Juden als alptraumhaft empfundenen Bemühungen um Ausweisung der „Ostjuden“ im Jahr 1923.14 Für Jakob Reich bildete die Erfahrung dieser Monate eine „Lehre [...] aus den schweren Tagen im innerjüdischen Leben“, die eine Gemeinschaft entstehen ließ, „in der historisch bedingte Gegensätze und Spannungen recht unerheblich wurden. Man ging gemeinsam an den Auf- und Ausbau des Gemeindelebens und in der Gemeindevertretung wirkten Ost- und Westjuden bis zum bitteren Ende einträchtig und fruchtbar miteinander.“15
Die Beschimpfung der „Ostjuden“ als „Schmarotzer“ und „Parasiten“ diente als antisemitische Projektion auf die gesamte jüdische Bevölkerung. Die rassistische Diskreditierung und Stigmatisierung der „Ostjuden“ war zweifellos auch eine gewollte politische Inszenierung und bildete einen der zentralen Bausteine der todbringenden Demagogie der NS-Machthaber, der auch in München Tausende von Männern, Frauen und Kindern zum Opfer fielen.16
Derartige irrationale Haltungen waren nicht nur immanenter Bestandteil rechtsextremer, völkisch-nationalistischer Argumentation, sondern auch die politische Linke argumentierte antisemitisch, so zum Beispiel, als die sozialdemokratische Tagezeitung „Münchener Post“ beklagte, dass „30 000 Ausländer den Münchnern – mit Respekt zu sagen – die Lebensmittel wegfressen, alles verteuern und denen, die ein Recht auf Wohnungen haben, jede Möglichkeit nehmen, sich einen Hausstand zu gründen“.17
Das sozialdemokratische Leitmedium war damit der gleichen Meinung wie der Staatskommissar für München-Stadt und Land Ernst Pöhner, der wenige Woche später auf dem Amtsweg dekretieren sollte: die rechtliche Handhabe, „das Land frei zu machen […] von den […] Ausländern, deren Anwesenheit nicht einem unabweisbaren wirtschaftlichen oder öffentlichen Bedürfnisse entspricht, insbesondere aber von jenen steuerfremden Elementen, die nur Gewinnsucht ins Land geführt hat und die außerdem vielfach auch die Träger und Verbreiter östlicher bolschewistischer Ideen sind“.18 Für Menschen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit hatten, stand der Aufenthalt in der Stadt damit unter dem Vorbehalt einer jederzeit widerrufbaren ortspolizeilichen Duldung. Innerhalb von fünf Tagen konnten sie aus Bayern abgeschoben werden. Der rechtsextreme Jurist und spätere Hitler-Gefolgsmann Pöhner traf mit seiner radikalen Maßnahme offenbar den Nerv der Zeit.
Fazit
Ressentiments gegenüber „Fremden“, Ablehnung von Ausländerinnen und Ausländern und rassistische Diskreditierung von Migrantinnen und Migranten sind keine originären Phänomene der Weimarer Jahre, der NS-Zeit oder unserer Gegenwart, sondern zählen bekanntlich seit eh und je zum Kernbestand sozialer Gemeinschaften. Sie sind gleichermaßen identitätsstiftend nach Innen und ausgrenzend nach Außen. Sie behaupten einerseits die gewachsene Homogenität eines Kollektivs und unterstellen einheitliche kulturelle und soziale Prägungen, während andererseits dem „Fremden“ eine oft schädliche, ja zerstörerische Kraft und gefährliche Wirkung zu Lasten dieses vermeintlich wertvollen Kernbestands an sozialer und kultureller Tradition zugeschrieben wird. Während der NS-Zeit wurde die Diffamierung von „Fremdheit“ auf die Spitze getrieben; Rassismus und Antisemitismus wurden aus dem trüben Dunkel sektiererischer Randmilieus dem Kernbestand administrativen Handelns zugeschlagen und zur Staatsdoktrin mit justizieller Beglaubigung erhoben. Freilich hat der Nationalsozialismus Fremdenhass und antisemitische Aggression nicht erfunden, vielmehr schon lange vorhandenes Gedankengut und vorgefundene fremdenfeindliche Stereotype aufgegriffen, diese dann im eigenen Sinne umgedeutet und in mörderischer Radikalität zugespitzt. Bereits früher erprobtes staatlich legitimiertes Verfolgungshandeln wurde während der NS-Zeit perfektioniert. Die Recherche nach den Vorbildern des nationalsozialistischen Rassenhasses zeigt: Das einstmals „leuchtende München“ Thomas Manns hatte in den Jahren um 1900 auch tiefdunkle Schattenseiten mit signifikanten Defiziten hinsichtlich der Akzeptanz von „Fremdheit“ und dem alltäglichen Umgang mit Anderen.