Themenforum Jüdisches Leben in Deutschland
Ein Interview mit der Regisseurin und Drehbuchautorin Alexa Karolinski
Bild: Alexa Karolinski/Foto:privat„Sobald ein ‚Ihr‘ im Raum steht, hat das einen bitteren Beigeschmack“
Alexa Karolinski, geboren 1983, wuchs in Berlin auf, wo ihre Familie auch heute noch lebt. Sie studierte zunächst Kunstgeschichte und arbeitete anschließend für das Szenenmagazin Vice und für Arte, wo sie unter anderem Regie bei Künstlerporträts führte. Anschließend ging Alexa Karolinski für ein Dokumentarfilmstudium nach New York an die School of Visual Arts. Für Ihre Abschlussarbeit porträtierte sie ihre Großmutter Regina Karolinski und deren Freundin Bella Katz, beides Holocaust-Überlebende. Für „Oma und Bella“ wurde Alexa Karolinski 2014 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Ihr zweiter langer Dokumentarfilm „Lebenszeichen – Jüdischsein in Berlin“ ist sowohl eine Erkundung der eigenen Identität als auch ein Porträt Berlins und seiner jüdischen Historie. Einen großen Erfolg konnte Alexa Karolinski mit der Netflix-Serie „Unorthodox“ feiern, zu welcher sie gemeinsam mit Anna Winger das Drehbuch schrieb. Der Vierteiler, der von einer Frau namens Esty handelt, die der ultraorthodoxen Satmargemeinde in New York entflieht, um in Berlin ein selbstbestimmtes Leben zu führen, erhielt einen „Emmy“ für die Regie und zwei „Golden Globe“-Nominierungen. Alexa Karolinski lebt derzeit in Los Angeles, wo sie an einem Film über den Holocaust arbeitet.EuP: Die Mini-Serie „Unorthodox“ erhält nicht nur – unter anderem in Form bedeutender Preise – in Fachkreisen große Anerkennung, Sie findet auch sehr viel Zuspruch von den Zuschauerinnen und Zuschauern – viele hoffen auf eine Fortsetzung.
Wie ist diese große Begeisterung des Serienpublikums zu erklären?
Alexa Karolinski: Ich glaube, dass es für Erfolg keine Formel gibt, ansonsten wären ja alle Produktionen erfolgreich, da man diese Formel einfach kopieren könnte. Es ist auf jeden Fall das gewisse Etwas, das man nicht definieren kann. Ich denke, bei „Unorthodox“ liegt es wahrscheinlich daran, dass es um eine junge Frau geht, die eine Sehnsucht nach Freiheit und nach einem anderen Leben hat, und das ist etwas, womit sich viele Menschen identifizieren können – das kann frei von Religion und Ursprung sein. Dieser Wunsch, eine Community, eine Gemeinde, einen Ort zu finden, an dem man sich wohlfühlt und sich selbst finden kann, das ist ein Wunsch, den wir alle haben.
EuP: Hatte die Serie vorab diesen Anspruch, eine Identifikationsfigur zu schaffen und somit möglicherweise Zuschaueinnen und Zuschauer, die in einer ähnlichen Situation wie die Hauptfigur Esty sind, Kraft zu spenden, um einen befreienden Schritt zu wagen? Wollte sie einen Einblick in die chassidische Glaubensgemeinschaft geben – oder geht es in erster Linie um Unterhaltung?
Alexa Karolinski: Es sind alle drei Aspekte zusammen. Es gibt sehr viele Bücher über Leute, die diese spezielle Gemeinde verlassen, es gibt auch Dokumentarfilme darüber, „One of us“ zum Beispiel auf Netflix – wir wollten eine TV-Serie über dieses Thema machen. Das erlaubt bestimmte Dinge, die man in einem Dokumentarfilm nicht machen kann. Wir konnten auf eine Art und Weise einen Blick in die chassidische Gemeinde werfen, wie es mit Dokumentarfilmkameras nicht möglich gewesen wäre. Gleichzeitig geht es aber nicht nur darum, eine bestimmte Welt zu zeigen. Das Tolle am Film- und Serienschreiben ist, dass man sich in andere Charaktere hineinversetzen kann. Ich liebe alle unsere Charaktere, auch die, die vielleicht schwieriger sind, wie zum Beispiel Moishe. Es hat mir sehr viel Spaß gemacht, Moishe zu schreiben. Bei der Frage, wie wir diese Geschichte kommunizieren, wurde natürlich sehr viel davon gelenkt, dass sie für das Fernsehen gedacht ist. In diesem Fall bin ich natürlich in erster Linie Fernsehmacherin, aber es sind hier definitiv alle drei Aspekte vorhanden.
EuP: Sie und das ganze Filmteam haben Recherchereisen nach Williamsburg in New York gemacht, einerseits um einen zentralen Schauplatz der Serienhandlung zu sichten, andererseits um mit Bewohnerinnen und Bewohnern der ultraorthodoxen Gemeinde zu sprechen. Wie hat die Gemeinde auf das Serienprojekt und auch auf das Ergebnis reagiert?
Alexa Karolinski: Natürlich gibt es selbst in einer streng gläubigen Gemeinde wie in der Satmargemeinde verschiedene Facetten und Graduierungen hinsichtlich der Religiosität. Die Personen, die mit uns gesprochen haben, waren nicht die streng gläubigsten, es waren die, die ein bisschen „schummeln“ und sich vielleicht sogar nach etwas Anderem sehnen – und auch diejenigen, welche die Serie später vielleicht gucken, denn innerhalb dieser Gemeinde darf man eigentlich nicht fernsehen. Daher haben wir auch anschließend aus dieser speziellen Gemeinde nicht viel Feedback bekommen, außer von den Wenigen, die die Serie heimlich geschaut und sich damit identifiziert haben. Aber es gibt ja auch viele andere chassidisch-jüdischen Gemeinden und andere religiöse Juden und so haben wir alle möglichen positiven und negativen Messages und Kritiken bekommen. Es ist natürlich völlig individuell, wie man sich darin wiederfindet.
EuP: Die Serie wurde von Deborah Feldmanns autobiografischem Roman inspiriert, das heißt, die Grundgeschichte entstammt dem Buch, es kommt aber zu vielen Abweichungen. So siedeln sie beispielsweise einen Teil der Handlung in Berlin an. Inwieweit ist Berlin für die Geschichte, die Sie erzählen, wichtig?
Alexa Karolinski: Wir wollten Esty unbedingt nach Berlin bringen, zum einen weil wir Deborah Feldmann kennen, die in Berlin lebt, zum anderen aus erzählerischen Gründen, weil wir auch ein bisschen Thrillerformat in die Erzählung einbringen wollten. Und weil Berlin für uns sehr interessant als Gegensatz war. Erstens komme ich aus Berlin, während Anna jetzt in Berlin lebt. Zweitens war diese Idee, dass jemand aus einer Gemeinde, die sich hauptsächlich mit dem Trauma des Holocaust identifiziert, zurück an den Ursprung des Holocaust geht, für uns sehr interessant. Wir wollten sehen, was es bedeutet, wenn wir Esty sozusagen in den Ursprung des Traumas werfen und gleichzeitig mit einfließen lassen, was Berlin für uns – für Anna und mich – repräsentiert, wie wir unsere Künstlergemeinden in Berlin gefunden haben, wie unglaublich international und multikulturell Berlin ist. Wir haben Esty bewusst zur Musikerin gemacht, obwohl Deborah Autorin ist, denn Berlin hat über 50 verschiedene Musikakademien bzw. –schulen und wir wollten sie in diese Welt bringen.
EuP: Berlin spielt auch in Ihren vorhergehenden Filmen eine Rolle. Sie haben 2018 einen Essayfilm mit dem Titel „Lebenszeichen – Jüdischsein in Berlin“ veröffentlicht. Dieses Filmgenre versucht mit einer subjektiven Herangehensweise ein Thema zu erschließen. Zu welchen Erkenntnissen hinsichtlich Ihrer jüdischen Identität sind Sie hierbei gekommen?
Alexa Karolinski: Es ging in Lebenszeichen sehr viel um das vererbte Trauma und darum, in Deutschland aufzuwachsen und zu lernen, dass es auch ein Trauma auf nicht-jüdischer deutscher Seite gibt. Für mich war Lebenszeichen die Möglichkeit, sich damit auseinanderzusetzen, was meine Rolle in diesem großen Trauma ist. Gleichzeitig ist es ein Film über die Erinnerungskultur in Deutschland, die sich natürlich auf den Mord an über sechs Millionen Juden bezieht. Als Kind von Überlebenden finde ich darin keinen Platz. Ich kann mich damit nicht identifizieren. Lebenszeichen war der Ausdruck dieser Suche nach meiner Rolle in diesem Trauma und in der Erinnerungskultur und ich habe gelernt, dass es okay ist, wenn ich keinen Platz darin finde, und dass jeder anders gedenkt.
EuP: Sie sprachen im Zusammenhang mit dem Film von sogenannten Mikroaggressionen: Man fühlt sich aufgrund seiner Identität von der Aussage des Gegenübers verletzt, auch wenn dieser eigentlich eine gute Intention mit dem Gesagten hatte. Fehlt in Deutschland das Wissen um verschiedene Identitäten, sodass es zu diesen Mikroaggressionen kommt?
Alexa Karolinski: Zunächst ist festzuhalten, dass Mikroaggressionen ein Nebeneffekt der identity-politics-Debatte sind. Sie beziehen sich nicht nur auf das Jüdischsein, jeder kann sie in bestimmten Situationen empfinden. Bezogen auf das Jüdischsein in Deutschland liegt es wohl daran, dass es Jahrzehnte lang sehr, sehr wenige Juden in Deutschland gab, die nur wenige Sprachrohre wie den Präsidenten des Zentralrats oder jüdische Gemeinden hatten, und dass daher Leute in Deutschland einschienig über jüdisches Leben gelernt haben. Anstatt wirklich individuell auf Menschen einzugehen, kann man dann, auch mit der besten Intention, alles richtig machen zu wollen, doch sehr verletzend sein. Mikroaggressionen entstehen letztlich, wenn man sich über sein eigenes Wissen profilieren will und so eine gewisse Ignoranz kommuniziert. Wenn man beispielsweise mir als Jüdin sagt, wie toll exotisch wir Juden sind und dass wir die besten Partys haben, dann ist mir schon klar, dass das als Kompliment gemeint ist, aber sobald hier ein „Ihr“ im Raum steht, hat das einen bitteren Beigeschmack, dann liegt eine Mikroaggression vor, da es kein klares „Wir“ gibt und da wir ja davon ausgehen, dass es keine „Rassenpolitik“ gibt.
EuP: Seit einigen Jahren leben Sie in Los Angeles. Um beim Titel Ihres Films zu bleiben: Wie nehmen Sie das „Jüdischsein“ in Los Angeles, in den USA im Vergleich zum „Jüdischsein“ in Berlin, in Deutschland wahr?
Alexa Karolinski: Wir haben in Los Angeles sehr viele jüdische Gemeinden, in Deutschland dagegen habe ich – da bin ich mir sicher – mit jedem Juden einen Menschen gemeinsam. Wenn ich auch eine jüdische Person nicht kenne, so ist wahrscheinlich nur eine Person dazwischen. Hier in den USA ist das komplett anders.
Ich merke den Unterschied alleine schon an den Gesprächen, die ich mit deutschen Journalisten über Jüdischsein führe, und an der Relevanz, die dieses Thema dabei hat. Hier in den USA sind andere kulturelle Themen relevant, da wird nicht vordergründig über das Jüdischsein gesprochen.
EuP: In Ihrem ersten Dokumentarfilm „Oma und Bella“ porträtieren Sie Ihre Großmutter Regina Karolinski und deren Freundin Bella Katz, beide haben den Holocaust überlebt. Sie zeigen die beiden unter anderem beim gemeinsamen Fernsehen, beim Einkaufen auf dem Markt und vor allem beim Kochen – dabei sprechen diese auch über ihre Vergangenheit. Welche Wirkung wollten Sie mit dieser in leisen Tönen umgesetzten Thematisierung der Shoah erzielen?
Alexa Karolinski: Grundsätzlich glaube ich daran, dass man mit leisen Tönen die Menschen besser erreichen und berühren kann als mit lauten. Ich glaube an ruhige Momente und an Dinge, die nicht schwarz-weiß sind. Leute sind kompliziert und es ist möglich, dass die Filmarbeit das abbildet.
Mein tägliches Leben mit Oma und Bella war genau so, wie ich es dargestellt habe. Im Alltag der beiden ging es nicht ständig um den Holocaust, vielmehr brodelte er bisweilen hoch. So funktioniert Trauma. In meiner Arbeit geht es viel um Traumata und darum, wie diese funktionieren. Das war für mich auch bei dieser Filmarbeit interessant.
Ein weiterer Aspekt ist die persönliche Ebene: Ich bin in Deutschland aufgewachsen, war teilweise die einzige oder eine von zwei Jüdinnen in der Klasse und habe ganz regulär in einer deutschen Schule etwas über den Holocaust gelernt. Ich hatte mir damals sehr oft gewünscht, dass Leute einfach meine Oma und Bella kennenlernen, damit das Ganze eine menschliche und persönliche Dimension erhält. Die Diskussionen, die ich darüber im Geschichtsunterricht erlebt habe, hatten sehr wenig mit meinen Gefühlen und mit den Erfahrungen, die ich in meiner Familie gemacht hatte, zu tun. Es lief sehr unpersönlich und abstrakt ab. Natürlich haben in den Neunzigern die wenigsten Enkelkinder von Nationalsozialisten offen über den Schmerz gesprochen, den sie empfanden, nachdem sie gelernt hatten, dass ihre Großeltern die Täter waren. Das passte vielleicht nicht in ihr Lebensbild. Diese fehlende Offenheit hat in mir sehr viel Schmerz und auch Wut ausgelöst, da ich diese überlebende Frau stets vor meinen Augen hatte.
Ich dachte, vielleicht kann ich etwas relativ Simples machen, und zwar, dass sich die Zuschauer in die beiden Frauen verlieben und so einen empathischen Zugang zum Holocaust erhalten.
EuP: In einer Szene besuchen die beiden Damen eine Freundin, die nicht über ihre Erlebnisse im Konzentrationslager sprechen möchte. Wie haben Sie den Umgang mit der Vergangenheit in Ihrer Familie wahrgenommen?
Alexa Karolinski: Meine Oma hat offen über den Holocaust geredet, Bella bis zu dem Film eigentlich gar nicht. Ich habe am meisten von meinen Eltern über den Holocaust erfahren. Wir haben zu Hause sehr viel darüber gesprochen, da sowohl meine Mutter als auch mein Vater Kinder von Holocaust-Überlebenden waren, was ein eigenes Trauma nach sich zog. Außerdem haben wir ja in Deutschland gelebt und wurden dauernd nicht nur mit dem Holocaust, sondern auch mit dem Jüdischsein konfrontiert. Man fühlt sich ständig jüdisch und wird auch permanent – was ja der große Unterschied zum Leben in den USA ist – daran erinnert. Ich denke, so fühlen sich im Übrigen alle Minderheiten in Deutschland. For better or for worst – nicht immer gut.
EuP: Sind Minderheiten im deutschen Film und Fernsehen zu wenig repräsentiert?
Alexa Karolinski: Das würde ich zu 100 Prozent so sagen. Vor allem hinter der Kamera besteht dieses Problem. „Unorthodox“ ist die große Ausnahme, da wir hier ein komplett weibliches Team hatten. Und das war das Ziel, denn nun ist die Messlatte weit oben. Jetzt kann man sagen: „Die haben es auch hingekriegt, warum kriegt ihr es nicht hin.“
EuP: Kommen wir am Ende noch einmal zu Ihrem aktuellen Werk – „Unorthodox“: Die Regisseurin Maria Schrader sagt, dass in dem Moment, in dem die Hauptfigur Esty die unorthodoxe Gemeinde verlässt und nach Berlin – in eine Metropole der Moderne – kommt, wir als Publikum „unsere“ Welt kritisch überprüfen. Welche positiven Aspekte kann das Leben in einer derartigen Gemeinde mit sich bringen, die der modernen Welt fehlen?
Alexa Karolinski: In eine Gemeinde hineingeboren zu werden, in der so eine Zusammengehörigkeit besteht, kann sehr gemütlich und schön sein. Es ist eine Welt, in der es weniger Einsamkeit gibt – solange man so denkt und fühlt, wie die Regeln dieser Gemeinde es verlangen. Wir haben Leute kennengelernt, die sehr glücklich waren in ihrer Gemeinde, eben weil es dort den Hyper-Individualismus, nach dem „wir“ in der modernen Welt – vor allem hier in den USA – streben, nicht gibt.
Interview: Markus Baar