Themenforum Antisemitismus
Antisemitismus im Netz 2.0
von Monika Schwarz-FrieselBild: "Meinwärts" von Marion Kahnemann. Fotografin: Christine Starke, Dresden.
Antisemitismus im Internet: Alter Judenhass im Reload"
Das Internet stellt im 21. Jahrhundert den wichtigsten sozialen Kommunikationsraum für Informationsverbreitung und interaktiven Meinungsaustausch dar. Die digitalen Prozesse des World Wide Web befördern aber durch die spezifischen Charakteristika der anonymen und kontrollresistenten Sprachproduktion auch maßgeblich die Zugänglichkeit und Ausbreitung radikalen, volksverhetzenden und hassgeprägten Gedankengutes. Das Netz 2.0 mit seinen sozialen Medien spielt eine zentrale Rolle bei der Tradierung und Verbreitung von antisemitischen Texten, Bildern und Filmen. Mehrjährige umfangreiche Untersuchungen im Rahmen der empirischen Antisemitismusforschung[1] zur Netzkommunikation belegen zum einen eine deutliche Zunahme judenfeindlicher Texte in den letzten zehn Jahren, zum anderen auch eine inhaltliche Radikalisierung, die sich in intensiver antisemitischer Hassrede sowie Vernichtungsphantasien widerspiegelt. Die Analyse großer Datenmengen zeigt, wie sich Antisemitismus im Netz nahezu unkontrolliert auch in nicht-extremistischen und nicht-politischen Bereichen der Alltagsnutzer ausbreitet und dass die Denk-, Gefühls- und Argumentationsmuster, auf denen er basiert, durch die Muster der jahrhundertealten klassischen Judenfeindschaft geprägt sind.Zugänglichkeit von Antisemitismen im Netz 2.0
Antisemitismus – eine feindselige Einstellung gegenüber Jüdinnen, Juden und dem Judentum als solchem – basiert als Glaubenssystem auf geistigen Stereotypen, die Jüdinnen und Juden kollektiv bestimmte Eigenschaften zuschreiben wie Rachsucht, Geldgier, Machtstreben und Verschwörungstätigkeiten. Diese mentalen Konzepte sind frei erfunden und haben in der Realität keine Entsprechung, aber sie werden seit Jahrhunderten auf die jüdische Religionsgemeinschaft und seit der Staatsgründung auf den jüdischen Staat Israel projiziert.[2] Antisemiten glauben unerschütterlich, dass Juden und Judentum das Böse und verantwortlich für alle Übel in der Welt seien. Entsprechend ist Judenfeindschaft untrennbar an das Gefühl des Hasses gekoppelt und den Wunsch, die jüdische Existenz auszulöschen.[3] Dies kann explizit und vulgär-aggressiv durch Äußerungen wie „Bombt das Zionistengebilde“, „Alle in die Gaskammern“ oder implizit und rhetorisch elaborierter als „Israel sollte seinen Anspruch auf den Status eines jüdischen Nationalstaates fallen lassen und im Interesse der Staatengemeinschaft aufgelöst und als Palästina neu formiert werden“ artikuliert werden. Am Ende laufen alle diese „Vorschläge“ auf die Auflösung bzw. Vernichtung Israels hinaus.
Judenfeindliche Stereotypartikulationen, Verschwörungsphantasien und Vernichtungswünsche finden sich im Netz 2.0 keineswegs nur in politisch und ideologisch extremen Diskursen, sondern sind mittlerweile integraler Bestandteil der alltäglichen Internetkommunikation. Es gibt kaum noch einen Bereich in den sozialen Medien, in dem Nutzer nicht Gefahr laufen, auf Judenhass zu stoßen, auch wenn sie nicht aktiv danach suchen. Mit oft nur einem Klick auf der Tastatur kommen z.B. User bei Such- und Informationsfindungsprozessen auf Seiten mit judenfeindlichen Texten und Bildern:[4]So finden sich antisemitische Äußerungen in Such- und Rechercheportalen, in Fan-Foren und im Unterhaltungs- und Spaßsektor. Junge Menschen werden auf diese Weise unvorbereitet mit kruden judeophoben Phantasien konfrontiert, deren Wahrheitsgehalt sie nicht überprüfen können. Diese bleiben oft jahrelang ungelöscht (z.B. antisemitische rhetorische Fragen wie „Warum sind Juden immer so böse“ oder „Der Holocaust – ein Märchen?“) in Informationsportalen, die vor allem von Schülerinnen und Schülern genutzt werden. Dadurch verstärkt sich der Eindruck, solche Aussagen und Fragen seien gerechtfertigt und legitim. Zwischen seriösen Fragen und Kommentaren tauchen regelmäßig Äußerungen mit antisemitischen Stereotypen und Verschwörungsphantasien auf, die beanspruchen, faktisch wahr zu sein („Das ist die Wahrheit!“). Jeden Tag werden zudem neue Antisemitismen im World Wide Web gepostet und ergänzen die seit Jahren gespeicherten und einsehbaren judenfeindlichen Texte, Bilder und Videos. Der YouTube-Bereich zeichnet sich in weiten Teilen durch eine Vielzahl von antisemitischen Filmen (auch aus der NS-Zeit) und Kommentarfeldern mit extremen Hassbotschaften, Holocaustrelativierungen und Gewaltphantasien aus: „Tötet sie alle“, „Wir müssen dieses Pack vernichten“, „Euch soll die Pest holen unter großen Schmerzen sollt ihr büßen für eure Verbrechen an die Menschen dieser Erde“.[5] Es entstehen Echo-Kammern, in denen die User sich gegenseitig nur noch in ihren antisemitischen Glaubensinhalten bestärken und durch aggressive Posts anfeuern.
Das Sag- und Sichtbarkeitsfeld für Antisemitismen hat sich im Web 2.0 also erheblich vergrößert. Deren schnelle und problemlose Zugänglichkeit führt zu Gewöhnungseffekten: Judenfeindschaft erscheint als etwas Normales, täglich und alltäglich Ge- und Verteiltes, das vielfach weder reflektiert noch problematisiert wird. Hinzu kommen massive Abwehr- und Relativierungsstrategien in Bezug auf aktuelle Judenfeindschaft. Antisemitismus wird geleugnet und bagatellisiert. Diese Abwehrreaktionen weisen zugleich klassische Stereotype und Argumente des Judenhasses auf, z.B. das Argument, „Juden seien selbst schuld, wenn sie gehasst würden“. Ausgerechnet Online-Kampagnen, die gegen Judenfeindschaft aufrufen, werden innerhalb kürzester Zeit von Antisemitismen überschwemmt. In Solidaritätskampagnen sind oft die höchsten Zahlen von antisemitischen Tweets zu verzeichnen. Stimmen, die sich für jüdisches Leben und seinen Schutz erheben, stellen offensichtlich für Antisemiten eine besondere Provokation und ein großes Ärgernis dar, deshalb infiltrieren sie innerhalb weniger Minuten Anti-Antisemitismus-Aufrufe mit wütender, hasserfüllter Gegenrede.
Klassische Stereotype: Das Echo der Vergangenheit
Auffällig an antisemitischen Texten ist generell deren Gleichförmigkeit. Trotz gewisser Unterschiede in Stil und Lexik ähneln sich judenfeindliche Äußerungen sowohl historisch als auch aktuell auf frappierende Weise. Sie fußen auf einer beschränkten Menge von überlieferten Stereotypen und Argumenten, die beständig wiederholt werden.[6] Die Gleichförmigkeit der Texte belegt den Einfluss des kommunikativen Gedächtnisses, das seit Jahrhunderten überlieferte Sprachgebrauchsmuster speichert, und in aktuellen Situationen werden diese – bewusst, aber oft auch unbewusst – reaktiviert und reproduziert. Konzepte des „rach- und ränkesüchtigen Juden“, seine „Geldgier und Wucher“, seine „physische und seelische Andersartigkeit“ spielen dabei eine dominante Rolle. Es finden sich immer wieder dehumanisierende Dämonisierungen, ausgedrückt durch Tier-, Unrats- und Krankheitsmetaphern, die bereits im Mittelalter benutzt wurden, um Juden zu diskriminieren und zu stigmatisieren.[7] Juden und in der Projektion der Staat Israel werden als „Pestgebilde“, „Weltenübel“, „Ratten- und Teufelspack“, „Abschaum und Dreck“ bezeichnet; in weniger archaischen Entwertungen wird der jüdische Staat als NS-, Apartheids- und Rassismus-Staat delegitimiert und fern jeder Realität als „größte Gefahr für die Menschheit und den Weltfrieden“ entwertet, aktuell angepasst, aber konzeptuell ganz in der Tradition der klassischen Judenfeindschaft. Uralte judenfeindliche Stereotype verbinden sich so mit aktuellen Konzeptualisierungen. Über 50 Prozent aller Antisemitismen in den Netz-Korpora weisen klassische Stereotype auf. Diese Basis von Judenhass ist unabhängig von politischen, sozialen, ideologischen und ökonomischen Faktoren und trotz aller Aufklärungsarbeit nach dem Holocaust ein kulturell tief verankerter Gefühlswert, der auf der Wahnvorstellung fußt, Juden seien das Übel in der Welt. Für die gesamte Internet-Kommunikation ist zu konstatieren, dass sich zwar oberflächlich Formen und Prozesse im digitalen Zeitalter verändern, der kollektive Hass gegenüber Juden jedoch ungebrochen die semantische Grundlage ist.
Der klassische Anti-Judaismus und Rasse-Antisemitismus fußen auf dem Phantasma des ‚kollektiven/ewigen Juden‘ und verbinden sich (nach 1945) in der Gegenwart mit Vorwürfen des Post-Holocaust-Antisemitismus und seinen Stereotypen der ‚Holocaustausbeutung‘, des ‚Kritiktabus‘ sowie Prozessen der Schuldabwehr und Erinnerungsverweigerung. Der israelbezogene Antisemitismus, dem zufolge Israel ein ‚Unrechts-, NS- und Kolonialstaat‘ und ‚Zionismus Rassismus‘ sei, ist als Phänomen nicht isoliert zu sehen, sondern wird maßgeblich von den historischen Formen bestimmt. Dies zeigt sich auch deutlich beim muslimischen Antisemitismus im Netz 2.0, der keineswegs primär politisch vom Nahostkonflikt, sondern vielmehr vom klassischen Judenhass geprägt ist: Verschwörungsphantasien in diesen Diskursarealen weisen mit 88 Prozent und Vernichtungsphantasien mit 64 Prozent klassische judeophobe Stereotype (Juden als ‚Verbrecher‘, ‚Kindermörder‘, ‚Blutkultpraktizierer‘, ‚Weltverschwörer‘) auf.[8]
Gewaltphantasien und Vernichtungswille: Israel im Fokus des Hasses
Die Verbreitung von judenfeindlichen Inhalten hat nicht nur zugenommen (in zehn Jahren haben sich z.B. antisemitische Kommentare zu Online-Pressetexten vervierfacht),[9] sondern sich auch zunehmend radikalisiert. In den letzten Jahren haben sich in den sozialen Medien NS-Vergleiche, Superlativkonstruktionen und drastische Pejorativwörter (wie „Dreckspack“, „Abschaum“) verdoppelt.[10] Verbale Verrohung und affektive Enthemmungsprozesse sind insbesondere beim israelbezogenen Antisemitismus – der vorherrschenden Ausprägungsvariante von Judenhass 2.0 – zu sehen. Die Radikalisierung artikuliert sich oft über einen stark ausgeprägten Vernichtungswillen. Beim Hass auf Israel zeigt sich eine große Synergie: Hier sind linke, rechte, mittige Antisemiten konsensual.[11] Trotz aller Differenzen in ihren Einstellungen treffen sie sich in der Verdammung des jüdischen Staates, der als „Unrechtsgebilde“ und „Unglück“ konzeptualisiert wird. Die „Israelisierung der antisemitischen Semantik“ zeigt sich zudem immer mehr in Themenfeldern, die in keinerlei Relation zum Nahostkonflikt stehen (z.B. in der deutschen Beschneidungsdebatte, aber auch im Unterhaltungssektor. So fanden sich zahlreiche extrem antisemitische Texte als Reaktion auf den Eurovision Song Contest 2018, bei dem eine Israelin Gewinnerin war, die als „Kindermörderin“, dreckige Jüdin“ und „verkommenes Miststück“ beleidigt wurde). Zum Unterhaltungsfilm Wonder Woman gab es zahlreiche Boykottaufrufe und weltweit Tausende von Hasskommentaren, weil die Hauptdarstellerin Israelin ist.[12] Auch Berichte über Naturereignisse (wie Waldbrände in Israel) oder kulturelle Veranstaltungen (wie die Schwulen-und Lesbenparade in Tel Aviv) lösen regelmäßig Fluten von antisemitischen Beschimpfungen, Drohungen und Vernichtungswünschen aus: Israel soll „gebombt“, „zerstört“, „aufgelöst“ werden, seine Bewohner „in die Gaskammern geschickt“, „verbrannt“ oder „vertrieben“ werden. Solche Verwünschungen lassen zugleich Grausamkeit und Mitleidslosigkeit erkennen, typische Kennzeichen von tief empfundenem Hass.[13] So wird die Tradition des eliminatorischen Judenhasses mit seinem „Erlösungsglauben“ (der in der NS-Zeit zum Zivilisationsbruch um Auschwitz führte) in Bezug auf den jüdischen Staat kontinuierlich fortgeführt. Im linken Spektrum des Antisemitismus finden sich gemäß der NS-Kampagne „Kauft nicht bei Juden“ Boykottforderungen, die sich auf den gesamten jüdischen Staat richten und letztendlich seine Auflösung zum Ziel haben (s. z.B. die BDS-Kampagne). Solche Diskreditierungsstrategien finden sich mittlerweile auch im rechten und rechtsextremen sowie muslimischen Antisemitismus. Der Hass auf Israel ist das Bindeglied ansonsten separater politischer und ideologischer Gruppen, die den jüdischen Staat als wichtigstes Symbol des gelebten Judentums attackieren. Bei den letzten EU-Wahlen 2019 ging die Extrempartei Die Rechte mit einem Plakat in den Wahlkampf, das als Text den Satz „Israel ist unser Unglück“ zeigte. Diese Aussage lehnt sich unmittelbar und unzweideutig an die antisemitische NS-Rhetorik an: Als Schlagzeile war „Die Juden sind unser Unglück“ (ein Ausspruch Heinrich von Treitschkes aus dem 19. Jh.) auf jeder Frontseite des Hetzblattes „Der Stürmer“ abgebildet.
Es gibt Facebook-Gruppen, die explizit im Titel ihr Ziel benennen wie „DeathtoIsrael”, „FuckIsrael“, „Fuck-Zionism“ und „KillIsrael“. Hashtags wie #KindermörderIsrael verfestigen zusätzlich stereotype Inhalte. Hierbei ist zu beachten, dass der israelbezogene Antisemitismus gesamtgesellschaftlich betrachtet nicht nur in der virtuellen Welt des Internets, sondern auch in der realen Welt die häufigste und augenfälligste Variante des zeitgenössischen Judenhasses ist, auch wenn diese moderne Form oft als „Kritik an Israel“ umgedeutet wird.[14] Ohnehin muss betont werden, dass beide Realitäten nicht zu trennen sind. Die digitale Informationswelt ist integraler Bestandteil aller gesellschaftlichen Prozesse. 80–85 Prozent der deutschen Bevölkerung nutzen regelmäßig das Internet. Bei den 12- bis 19-Jährigen sind es 99 Prozent. Ein Großteil dieser Nutzer verwendet das Web primär zum Informations-, Beziehungs- und Identitätsmanagement.[15]Entwicklungen in der virtuellen Netz-Welt korrelieren in der realen Welt mit judenfeindlichen Übergriffen und Attacken, Drohungen und Beleidigungen auf den Straßen und bei anti-israelischen Demonstrationen sowie einem „neuen Unbehagen“,[16] d.h. Furcht und Sorge in den jüdischen Gemeinden Deutschlands und Europas.[17]
Affektmobilisierung und Hassaktivierungen
Das Internet erzeugt nicht die judenfeindlichen Gedanken und Gefühle, denn diese sind als Einstellungsantisemitismus mental bereits in den Köpfen der User, wenn sie diese produzieren. Seine spezifische Kommunikationsstruktur und -dynamik jedoch führt dazu, dass judenfeindliche Hassrede besonders intensiv, radikal und ungezügelt artikuliert wird. Dieausgeprägte emotionale Dimension, die seit Jahrhunderten maßgeblich Judenfeindschaft prägt, kommt im Netz 2.0 auf drastische Weise zum Vorschein, wobei die Multimodalität (Sprache, Bilder, Audio, Video) der Repräsentationen das Emotionspotential zusätzlich erhöht. Hinsichtlich der stark ausgeprägten Affektmobilisierung im Web 2.0 weisen muslimische, rechte und linke Antisemiten nahezu identische Muster und Strategien auf: Das Beeinflussungspotenzial liegt primär in den Kommunikationsräumen und -portalen, die alltägliche Anknüpfungspunkte an die Lebenswelt anbieten, in gruppen- und identitätsstiftenden Diskursen wie Fan- und Diskussionsforen, Ratgeberportalen und sozialen Netzwerken. User sollen so quasi nebenbei auch auf nicht-politischem Terrain durch bewusste und unbewusste Indoktrination affektiv erreicht und beeinflusst werden.
Tabuisierungsmuster und Prinzipien der sozialen Erwünschtheit, aber auch die üblichen konventionellen Normen der Höflichkeit und der Affektregulierung sind in der antisemitischen Netzkommunikation ausgeschaltet. Die im öffentlichen Kommunikationsraum noch weitgehend funktionierende kognitive Kontrollinstanz, die sozial verpönte, nicht erwünschte oder als unangemessen empfundene Äußerungen bei der spontanen Sprachproduktion unterdrückt oder abschwächt, wird bei der Online-Hasskommunikation nicht mehr als Regulator zugeschaltet. Hass- und Gewaltartikulationen haben Spitzenwerte: „Die Zionisten sind das Übel dieser Welt. Diese dreckigen feigen Kindermörder muss man packen und in Schweinescheiße ersticken. Israhell der verdammte HurensohnTerrorstaat. . . . . .Fickt Euch! ! ! ! ! !“;[18] „Verflucht sollt ihr sein juden dreck“.[19]
Der Selbstschutz vor Sanktionen oder Konsequenzen durch Anonymität ist hierbei nicht der einzige Grund für die Enthemmung. Auch die Abstraktheit, die Körperlosigkeit der Online-Kommunikation spielt eine Rolle: Zum Zeitpunkt der Sprachproduktion befinden sich die Verfasser ohne menschliches Gegenüber mit dem Finger auf der Tastatur in einem völlig privaten Diskursraum. Es gibt kein Gesicht, keinen Körper, keine konkrete(n) Person(en), die als Alter Ego fungieren. Der Hass richtet sich auf abstrakte imaginierte Dritte, auf bloße Vorstellungen von Menschen, die den Status ‚Feind‘ haben. Entsprechend sinkt die Hemmschwelle, judenfeindliche Äußerungen offen zu artikulieren und sie für Tausende in wenigen Sekunden sichtbar zu machen. Dass verbale Gewalt auch eine Form der höchst gefährlichen Gewalt ist, dass sie Schmerz und Schaden zufügt, wird entweder ausgeblendet oder in Kauf genommen. Dass sprachliche Gewaltexzesse Basis, Vorbereitung und Auslöser für physische Taten sein können, wird oft auch von den Usern und Bystandern (also passiv bleibenden Lesern) ignoriert. Die Aufarbeitung nach dem Holocaust, die Erkenntnis, welche Konsequenzen das Ausleben eines ungezügelten Judenhasses haben kann, haben keineswegs zu einer flächendeckenden Eindämmung des Ressentiments gegen Juden geführt. Im Gegenteil: Nach einer kurzen Phase des in der Öffentlichkeit eingedämmten und tabuisierten Antisemitismus zeigt sich im Web 2.0 das ungezügelte Hasspotenzial der alten irrationalen Judenfeindschaft.
Fazit
Das Web 2.0 ist heute der primäre Tradierungsort, Umschlagplatz und Multiplikator für die Verbreitung von Antisemitismen. Durch die Spezifika der Internetkommunikation und die steigende Relevanz der sozialen Medien als meinungsbildende Informationsquelle in der Gesellschaft hat die ungefilterte und fast grenzenlose Verbreitung judenfeindlichen Gedankengutes allein quantitativ ein Ausmaß erreicht, das in der Geschichte präzedenzlos ist. Die Infiltration der alltäglichen Kommunikationsräume durch Antisemitismen und judenfeindliche Verschwörungsphantasien zeigt sich diskursübergreifend in allen sozialen Medien. Es sind keineswegs nur die Informationsportale der politischen und ideologischen Extremisten, sondern die alltäglichen Kommunikationsprozesse der Alltags-User, die verantwortlich für Verbreitung judenfeindlichen Gedankenguts sind. Dies bewirkt eine gefühlte Allgegenwart von Judenhass im Netz und führt in der Tendenz zu Gewöhnungs- und Normalisierungseffekten.
[1] In einem über vier Jahre von der DFG geförderten Projekt wurden in Korpusstudien hunderttausende Texte erfasst und in großen Korpora sowie in Stichproben analysiert. Dabei wurden zahlreiche Kommunikationsbereiche berücksichtigt, unterschiedliche Textsorten (wie Online-Kommentare zu Presseberichten, Blogeinträge, Tweets, Facebook- und Youtube-Postings, Fanforen- und Ratgeber-Einträge usw.) mit ihren multimodalen Verlinkungen (auf Bilder, Audios, Videos) quantitativ und qualitativ untersucht. Vgl. hierzu ausführlich Monika Schwarz-Friesel: Judenhass im Internet – Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl, Berlin 2019.
[2] Vgl. Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, München 1999; Robert S. Wistrich: A Lethal Obsession: Anti-Semitism from Antiquity to the Global Jihad, New York 2010; David Nirenberg: Anti-Judaism. The Western Tradition, New York 2013.
[3] Vgl. Leon Poliakov: Harvest of hate, London, 1956; Robert S. Wistrich: Antisemitism: The longest hatred, London 1992; Monika Schwarz-Friesel/Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin/New York 2013.
[4] Vgl. hierzu Schwarz-Friesel (wie Anm. 1), Kap. 6.
[5] Kommentar zum YouTube-Video v. 23.09.2013 „Die Rothschilds: Eine Familie beherrscht die Welt.“, 202.313 Aufrufe, vgl. [EB_YT_20171200], [Stand: 02.06.2018], hierzu Monika Schwarz-Friesel: Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses. Judenfeindschaft als kulturelle Konstante und kollektiver Gefühlswert im digitalen Zeitalter (Kurzfassung), Berlin 2018, vgl. https://www.linguistik.tu-berlin.de/fileadmin/fg72/Antisemitismus_2-0_kurz.pdf [Stand: 14.04.2020].
[6] Vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz (wie Anm. 3), Kap. 6; Monika Schwarz-Friesel: Rechts, links oder Mitte? Zur semantischen, formalen und argumentativen Homogenität aktueller Verbal-Antisemitismen, in: Katharina Rauschenberger/Werner Konitzer (Hg.): Antisemitismus und andere Feindseligkeiten. Interaktionen von Ressentiments, Frankfurt am Main/New York 2015, S. 175–192.
[7] Joshua Trachtenberg: The Devil and the Jews. The Medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Antisemitism, New Haven 1943.
[8] Vgl. hierzu Schwarz-Friesel (wie Anm. 1), S. 72 ff.
[9] Vgl. hierzu ebd., S. 55 ff.
[10] Vgl. hierzu ebd., S. 105 f.
[11] Vgl. auch ebd., Kap. 5; Schwarz-Friesel/Reinharz (wie Anm. 3), Kap. 7.
[12] Vgl. z.B. https://twitter.com/zionocracy/status/869528564542066689 und https://twitter.com/latuffcartoons/status/871651516423262208?lang=de/ [Stand: 14.04.2020].
[13] Vgl. Monika Schwarz-Friesel: Hass als kultureller Gefühlswert: Das emotionale Fundament des aktuellen Antisemitismus, in: Olaf Glöckner/Günther Jikeli (Hg.): Das neue Unbehagen. Antisemitismus in Deutschland heute, Hildesheim 2019, S. 109–131.
[14] Zu betonen ist hier, dass auch eine scharfe Kritik an israelischen Aktionen nicht notwendigerweise antisemitisch sein muss. Es gibt klare Abgrenzungskriterien für diese beiden Sprachhandlungen (vgl. Schwarz-Friesel/Reinharz (wie Anm. 3), Kap. 7). Das Konzept der Grauzone ist daher aus Sicht der Wissenschaft gar nicht gegeben. Vgl. auch Monika Schwarz-Friesel: Aktueller Antisemitismus. Bundeszentrale für politische Bildung, 07.09.2015, vgl.http://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/211516/aktueller-antisemitismus [Stand: 25.06.2018]; Lars Rensmann: Zion als Chiffre. Modernisierter Antisemitismus in aktuellen Diskursen der deutschen politischen Öffentlichkeit, in: Monika Schwarz-Friesel (Hg.): Gebildeter Antisemitismus. Eine Herausforderung für Politik und Zivilgesellschaft, Baden-Baden 2015, S. 93–116; Mikael Shainkman (Ed.): Antisemitism Today and Tomorrow: Global Perspectives on the Many Faces of Contemporary Antisemitism, Boston 2018.
[15] Vgl. Reuters Institute: Digital News Report 2017, vgl. http://www.digitalnewsreport.org/survey/2017/overview-key-findings-2017 [Stand: 25.06.2018].
[16] Vgl. hierzu den gleichnamigen Sammelband Glöckner/Jikeli (wie Anm. 8).
[17] Vgl. hierzu auch die Ergebnisse der Studie von Andreas Zick/Andreas Hövermann/Silke Jensen/Julia Bernstein: Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland. Ein Studienbericht für den Expertenrat Antisemitismus, Bielefeld 2017, vgl. https://uni-bielefeld.de/ikg/daten/JuPe_Bericht_April2017.pdf [Stand: 25.06.2018].
[18] [MA_FB_KI_2_S22], hierzu Schwarz-Friesel (wie Anm. 5).
[19] [MA_FB_GI_1_S34], hierzu Schwarz-Friesel (wie Anm. 5).