Themenforum Antisemitismus

Antisemitismus gestern und heute

Antisemitismus gestern und heute

Von Samuel Salzborn

Bild: „Kreisende Weltfabrik III“ Künstlerin: Marion Kahnemann, Dresden/Fotografin: Christine Starke, Dresden

Aktuelle Erscheinungsformen von Antisemitismus und ihre Geschichte

Antisemitismus ist, so schrieb Jean-Paul Sartre schon 1945, eine Verbindung von Weltanschauung und Leidenschaft, er hat eine kognitive und eine emotionale Dimension.[1]. Antisemitische Einstellungen sind geprägt von einer wechselseitigen Durchdringung von bestimmten, gegen Jüdinnen und Juden gerichteten Ressentiments und einer hohen Affekthaftigkeit, die vor allem von Projektion und Hass geprägt ist.[2] Der Antisemit glaubt sein Weltbild nicht obwohl, sondern weil es falsch ist: Es geht um den emotionalen Mehrwert, den der antisemitische Hass für Antisemit(inn)en bedeutet. Deshalb muss man den Blick auch auf die antisemitischen Unterstellungen richten, die immer ein Zerrbild vom Judentum entwerfen, das letztlich eben ein „Gerücht über die Juden“[3] ist. In der Geschichte haben sich diese Gerüchte stets verändert, Antisemit(inn)en haben sich angepasst – so etwa nach 1945, als der offen rassistische NS-Vernichtungsantisemitismus politisch diskreditiert war und Antisemit(inn)en einen neuen Schuldabwehrantisemitismus entwickelten. Dieser machte nun die Opfer verantwortlich für die Störung der deutschen Nationalerinnerung. Nach dem Massenmord folgte dessen Verleugnung und Abwehr der Erinnerung in Form einer antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr.[4]

Antisemitismus seit 9/11

Ein wichtiger Wendepunkt in der jüngeren Geschichte antisemitischer Ressentiments waren die islamistischen Terroranschläge von 9/11, die erklärtermaßen nicht nur den USA, sondern der gesamten freien Welt und der aufgeklärten Moderne galten.[5] Sie stellten aber auch, wie Osama bin Laden und andere islamistische Terroristen stets betont haben, in zentraler Weise antisemitische Anschläge dar[6] – denn Jüdinnen und Juden stehen eben in der islamistischen Lesart für alles, was gehasst wird. So wurde 9/11 vor allem in der arabischen Welt auch als Initialzündung für eine weltweite antisemitische Mobilisierung verstanden, die aber nicht nur auf radikalislamische Gruppierungen beschränkt blieb.

Versucht man vor diesem Hintergrund eine Systematisierung des Antisemitismus, fallen mindestens drei Momente auf: seine Entgrenzung, seine Trivialisierung und seine Bagatellisierung. Was heißt das? Die Entgrenzung sah man exemplarisch im Sommer 2014, als unter Federführung von palästinensischen Organisationen in zahlreichen deutschen Städten Antisemit(inn)en aller Couleur gemeinsam demonstriert haben – neben islamistischen Antisemit(inn)en eben auch deutsche Neonazis und linke Antiimperialist(inn)en. Sind die Antiimperialist(inn)en auch nur ein marginaler Flügel in der deutschen Linken – die Mehrheit steht nach wie vor in Opposition zum Antisemitismus – so zeigt das Beispiel eine Entgrenzung, bei der das antisemitische Weltbild so zentral geworden ist, dass alle anderen weltanschaulichen Differenzen zurücktreten.

Hieran schließt sich die Trivialisierung an: Die heute dominante Form von Antisemitismus richtet sich gegen Israel als Staat, nur allzu gern versuchen Antisemit(inn)en sich aber hinter der Formel, dass Israelkritik doch nicht Antisemitismus sei, zu verstecken und auf diese Weise Antisemitismus zu trivialisieren. Dabei ist der Unterscheid leicht zu erkennen: Wenn der israelische Staat delegitimiert werden soll, wenn seine Politik dämonisiert wird oder wenn doppelte Standards bei der Bewertung israelischer Politik angelegt werden, handelt es sich nicht um Kritik, sondern um Antisemitismus.[7] Wer heute als Antisemit/in behauptet, er/sie werde nur von der Kritik zu einer solchen „gemacht“, trivialisiert Antisemitismus.

Und schließlich die Bagatellisierung: Antisemit(inn)en wenden sich mit ihrem Weltbild nicht nur gegen Jüdinnen und Juden, sondern gegen alles, was die moderne, aufgeklärte Welt kennzeichnet: gegen Freiheit und Gleichheit, gegen Urbanität und Rationalität, gegen Emanzipation und Demokratie. Deshalb ist der Kampf gegen Antisemitismus stets auch ein Kampf um die Demokratie – seit 9/11 wird Antisemitismus aber zunehmend bagatellisiert, indem man ihn zum Randproblem der Gesellschaft erklärt. Und mehr noch: Jüdische Kritik wird oft einfach vom Tisch gewischt, als sei nicht der Antisemitismus das Problem, sondern die, die von ihm betroffen sind.

Insofern ist die antisemitische Bedrohung seit 9/11 gerade in Europa auch eine doppelte: einerseits durch den virulenten islamistischen und rechtsextremen Terrorismus, andererseits aber auch durch das oft viel zu laute Schweigen der Demokrat(inn)en, das sich seit vielen Jahren tradiert. In diesem Spannungsverhältnis muss auch die Dynamik des Antisemitismus seit 9/11 gesehen werden, da in der Gegenwart drei theoretische Großerzählungen in ihrem weltpolitischen Alleinvertretungsanspruch aufeinanderprallen: der radikale Islamismus mit der Idee einer allumfassenden umma (Gemeinschaft), der gegenwärtig oft populistisch agierende Rechtsextremismus mit der Idee einer völkischen Segmentierung der Welt und die  – gerade im Kampf gegen Antisemitismus und in der Verteidigung der Demokratie eben oft viel zu passiv und zu defensiv agierende – Idee der liberalen Demokratie mit ihrer Überzeugung einer aufgeklärten Universalität.[8]

Zwei dieser drei Konzepte wollen die liberalen Grundlagen und den universalistischen Anspruch der Aufklärung bekämpfen und agieren dabei dezidiert antisemitisch. Der Rechtsextremismus, der durch seine populistische Mimikry ideengeschichtlich nur ungern mit den faschistischen Bewegungen identifiziert werden möchte (obgleich er mit diesen sogar das populistische Antlitz teilt), basiert auf einer selbstverliebten Omnipotenz-Phantasie, dem Willen zur unbedingten und unbegrenzten Macht. Im Zentrum steht die Idee eines als homogene Einheit gesehenen Volkes, dem eine historische Verbindung mit einem geografischen Ort zugeschrieben wird, wobei in antiaufklärerischer Absicht aus dem demos das ethnos wird, aus der Gesellschaft die Gemeinschaft, aus dem Pluralismus der Interessen der Monismus der Identität, aus der (demokratischen) Nation das (völkische) Volk, aus dem Konflikt das Schicksal und aus dem Gegner der Feind.

Der radikale Islamismus wiederum will eine weltumfassende umma errichten: eine homogene Gemeinschaft der Gläubigen. Paradoxerweise affirmiert der islamische Fundamentalismus dabei den technischen Fortschritt der Moderne, lehnt aber deren politische Errungenschaften wie Freiheit oder Gleichheit ab. Der islamische Fundamentalismus will sich nicht mit dem deistischen Friedensangebot der Moderne arrangieren, weil die emanzipative Kraft der Konstituierung von Glauben als private, vor allem aber nichtöffentliche Angelegenheit dem fundamentalistischen Implikat der islamischen Weltneuordnung widerspricht, das eine Verbindung von politischer Ordnung und Religion (wieder) herstellen und auf diese Weise ein Nizam Islami – eine islamische Weltordnung – schaffen will.

Beide Weltbilder treffen sich im Antisemitismus, der sich unterschiedlich artikuliert: Er reicht von offener Leugnung der Shoah oder der Relativierung der NS-Verbrechen bzw. der Aufwertung angeblicher Leistungen des NS-Regimes, der Schändung von Gedenkorten, gewalttätigen Übergriffen auf (vermeintliche oder tatsächliche) Jüdinnen und Juden, geht über die Infragestellung von (historischen) Zahlungen an Israel, des jüdischen Staates oder jüdischen Lebens im jeweiligen Nationalstaat, der Erinnerungs- und Verantwortungsabwehr sowie der Täter-Opfer-Umkehr, zahlreichen Varianten der Phantasie einer „jüdischen Weltverschwörung“ (besonders präsent in der Propaganda einer jüdischen Medien- und/oder Finanzmacht) bis hin zu strukturell antisemitischen Vorstellungen, in denen homogene Heimaträume gegen universalen Kosmopolitismus geschützt werden sollen oder die Ablehnung der im rechtsextremen und islamistischen Weltbild mit dem Judentum assoziierten Aspekte wie Vernunft, Aufklärung, Liberalismus, Kommunismus, Urbanität, Weltgewandtheit oder Intellektualität.
 

Wandlungen antisemitischer Ressentiments

Fokussiert man nun auf Deutschland und den Antisemitismus in Deutschland, dann hilft ein historisch-rekonstruierender Blick, die Dynamiken wie Variationen des Antisemitismus begreifbar zu machen. Die Weimarer Gesellschaft war entlang der Frage des Antisemitismus tief gespalten, jenseits aller sozialen und politischen Differenzen polarisierte der Antisemitismus schicht- und parteiübergreifend, was ein wichtiger Faktor für den Erfolg der NS-Bewegung war. Kreiste die nationalsozialistische Weltanschauung noch um den Antisemitismus und war die Vernichtung der Jüdinnen und Juden ihr wichtigstes Ziel, wurde der Antisemitismus nach 1945 öffentlich diskreditiert und von fast allen politischen Parteien eindeutig abgelehnt. Was in der Nachkriegszeit fast wie ein Konsens auf der politischen Bühne wirkte, war aber gesellschaftlich nur mangelhaft verankert: Erinnerungsabwehr, Schuldverleugnung und Täter-Opfer-Umkehr waren Motive, die in der bundesdeutschen Gesellschaft weit verbreitet waren – und sind: Bis heute zieht sich eine Linie, die kontinuierlich bei 15 bis 20 Prozent der Menschen antisemitische Einstellungen nachweist,[9] was die einfache, aber zugleich schwierig zu beantwortende und in diesem Beitrag zu diskutierende Frage aufwirft: Warum?

Um diese Frage zu beantworten, soll im Folgenden in fünf Schritten vorgegangen werden. Als erstes soll ein Blick auf die Vorgeschichte des nationalsozialistischen Antisemitismus geworfen werden, den zu verstehen nötig ist, um begreifbar zu machen, was sich mit dem NS-Antisemitismus änderte. Als zweites werden die Charakteristika des nationalsozialistischen Antisemitismus herausgearbeitet, um dann als drittes auf die Spezifik der bundesdeutschen Nachgeschichte des NS-Antisemitismus zu sprechen zu kommen und viertens, den islamischen Antisemitismus als im europäischen Kontext noch relativ junger Artikulationsform von Antisemitismus darzustellen, um dann schließlich fünftens den Antisemitismus der Gegenwart zu charakterisieren. Wichtig dabei: Es wird bewusst von einer Vor- und einer Nachgeschichte des Antisemitismus gesprochen, die sich historiografisch um den Nationalsozialismus strukturiert. Während damit keineswegs eine Linearität des Antisemitismus impliziert werden soll und die Vorgeschichte sich letztlich nur retrospektiv als solche erkennen lässt, soll gleichwohl angenommen werden, dass jede Form des Antisemitismus nach 1945 eine ist, bei der es sich um eine Nachgeschichte des NS-Antisemitismus handelt, nicht nur, aber in jedem Fall immer in Deutschland – dies sollte beachtet werden, wenn über die Entwicklung des gegenwärtigen Antisemitismus gesprochen wird.

Die Vorgeschichte: der religiös-antijüdische Antisemitismus

Die antijüdische Vorgeschichte des modernen Antisemitismus ist lang, christlich motiviert und gegen das Judentum als Religion gerichtet. Sie bildet sowohl die Vorgeschichte für den modernen Antisemitismus wie auch den Fundus für eine Reihe von Bildern und Stereotypen, die aus dem christlich-antijüdisch geprägten Mythenkontext stammen, nun aber in andere Artikulationsformen des Antisemitismus eingegangen sind. Der moderne Antisemitismus hat seine Ursprünge damit im christlichen Antijudaismus. Zahlreiche Motive des modernen Antisemitismus verweisen auf seine christlich-antijüdische Geschichte, obgleich sich sowohl die Artikulationsformen des modernen Antisemitismus als auch seine reflexive Bezogenheit auf den gesellschaftlichen Kontext grundlegend verändert haben.

Der Psychoanalytiker Sigmund Freud hat in seiner religionspsychologischen Studie Der Mann Moses und die monotheistische Religion[10] erstmals den Versuch unternommen, theoretisch den Motiven des religiösen Antisemitismus auf den Grund zu gehen. Dabei betont Freud vor allen Dingen den abstrakten Gesetzescharakter der jüdischen Religion und die damit den Menschen auferlegte Versagung, selbst göttlich sein zu können, als zentrale Motive für die antijüdische Orientierung des Christentums. In den christlichen Mythen verband sich die Ablehnung der jüdischen Religion dabei mit aggressiven Ängsten gegenüber dem Judentum, dessen Selbstverständnis der Auserwähltheit im antijüdischen Ressentiment zu einem Mythos von Weltbeherrschung und Weltkontrolle umgedeutet wurde. Insofern zeigt sich hieran auch die letztliche Zufälligkeit der antisemitischen Projektionsorientierung gegen die Juden, da das Motiv für die Entstehung des antijüdisch-religiösen Antisemitismus in Reflexions- und Legitimationsproblemen des Christentums selbst zu suchen war, wobei sich das Judentum lediglich aufgrund seiner religiösen Architektur für die antijüdischen Ressentiments eignete.

Die europäische Dimension der vormodernen Vorgeschichte des modernen Antisemitismus zeichnete sich hierbei historisch in erster Linie durch eine Parallelexistenz der Stereotype aus, Vermittlung und transnationale Beziehungen waren im Vorfeld der Entstehung der Nationalstaaten allein deshalb in deutlich geringerem Maße ausgeprägt, weil sich die Kommunikationsstrukturen noch primär regional organisierten und gerade erst im Begriff waren, über die Durchsetzung einheitlicher Nationalsprachen eine nationale Dimension zu erlangen, wobei die europäische Perspektive insofern in integrativer Hinsicht noch nicht gegeben war.

Ein Großteil der Stereotype und Bilder des Antisemitismus entstand bereits im christlichen Kontext, viele wurden dezentral verbreitet und in vergleichbarer Weise ausagiert. Johannes Heil (2006) hat dies mit Blick auf den bis in die Gegenwart ubiquitären Mythos einer „jüdischen Weltverschwörung“ gezeigt, dessen Genese und Relevanz er seit dem 13. Jahrhundert kenntlich macht. Der antisemitische Mythos einer „jüdischen Weltverschwörung“ im hohen und späten Mittelalter in Europa zeigt, dass auf der Ebene des religiös-intellektuellen Austausches bereits das Fundament für die spätere Verbreitung antisemitischer Ressentiments gelegt wurde und sich diese in christliche Traktate, Dekrete und Chroniken einschrieben, jenseits der Zugehörigkeit zu einem weltlichen Herrschaftsverband. Zu den zentralen antisemitischen Mythen zählten dabei neben der Dämonisierung die Ritualmordlegenden, der Vorwurf des Hostienfrevels und die Verbindung mit epidemischen Erscheinungen, etwa der Pest, aber auch der Vorwurf der Hexerei und Ketzerei. Das Christentum war insofern ein früher Motor für die weitreichende Verbreitung antisemitischer Stereotype, noch lange bevor diese in einer nationalen Dimension gedacht wurden. Der Mythos einer jüdischen Verschwörung blieb dabei „allseits verfügbar“ und verfestigte sich zur semantischen Selbstverständlichkeit.[11]

Nationalsozialismus und Vernichtung: der völkisch-rassistische Antisemitismus

Dass sich die christlich-religiösen Motive des Antijudaismus in den modernen Antisemitismus transformiert haben, hat seine zentrale Ursache im gesellschaftlichen Kontext der Moderne. Hannah Arendt beschreibt in ihrem Buch The Origins of Totalitarianism[12] einen über mehrere Jahrhunderte währenden Transformationsprozess des Antisemitismus, bei dem sich der Antisemitismus zunehmend von realen religiös-gesellschaftlichen Konflikten zwischen Juden und Nichtjuden entkoppelt und letztlich in der totalen Ideologie des Nationalsozialismus völlig von diesen gelöst hat. Die Verbindung der religiös-antijüdischen Vorstellungen mit den im 18. und 19. Jahrhundert aufkommenden pseudowissenschaftlichen Rassetheorien erwirkte dabei eine Dimension der Erfahrungslosigkeit, in der letztlich nur noch die Antisemit(inn)en darüber entschieden, wer als Jüdin und Jude zu gelten hatte und wer nicht. Womit die Ursache für antisemitische Aggression die, mit Jean-Paul Sartre gesprochen, „l’idée de Juif“,[13] also das Bild und die Vorstellung des Jüdischen, die sich der/die Antisemit/in macht, entscheidend wurde. Durch die Formierung des Antisemitismus als gesellschaftspolarisierendes Moment im Rahmen der Nationenwerdungsprozesse der europäischen Moderne sowie des Widerstandes gegen die jüdische Emanzipation und die soziale und rechtliche Gleichstellung der Jüdinnen und Juden wurde der Antisemitismus zum cultural code, wie Shulamit Volkov[14] es auf den Begriff gebracht hat, also zu einem Phänomen, das die politischen Kulturen innerhalb der nationalen Gesellschaften segmentiert und innerhalb dieses Segmentierungsprozesses zugleich intern wieder homogenisiert hat.

Damit amalgamierte sich der moderne Antisemitismus nicht nur mit einem völkischen Nationalismus und einem im englischen, französischen und deutschen Sprachraum entwickelten sozialdarwinistischen Rassismus, sondern auch generell mit modernefeindlichen und antiaufklärerischen Bewegungen, wie dies etwa die national-antisemitischen Agitationen der Studentenverbindungen im deutschen Kaiserreich und der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, der wachsende Einfluss von Antisemitenparteien vor allem in Mitteleuropa, die Dreyfus-Affäre in Frankreich, aber auch die Verknüpfung von nationaler Identität und Antisemitismus im Denken der romantisch-idealistischen Philosophie oder die Verfolgungen und Pogrome im spätzaristischen Russland zeigten. Die völkischen und antisemitischen Referenzsysteme wurden dabei transnational enger und die ideologische Formierung des Antisemitismus dichter, so dass zunehmend von einer antisemitischen Weltanschauung gesprochen werden kann, die gerade durch die Widersprüchlichkeiten ihrer Vorstellungen charakterisiert ist: Denn hierbei werden in der antisemitischen Phantasie Juden zum Symbol für das Abstrakte als solches, was den höchst widersprüchlichen Gehalt antisemitischer Ressentiments begreifbar macht: Jüdinnen und Juden wurde die Abstraktheit und damit die Moderne zum Vorwurf gemacht, was Sozialismus wie Liberalismus, Kapitalismus wie Aufklärung, Urbanität, Mobilität oder auch Intellektualität gleichermaßen umfasste.

Einzig das Konkrete und im Politischen das Völkische wurden nicht von der antisemitischen Phantasie erfasst, da sie den Gegenpol der – zuerst von Sartre beschriebenen[15] – Differenzierung zwischen allgemeiner und konkreter Denk- und Warenform und der daraus im antisemitischen Weltbild resultierenden Dichotomie von Weltgewandtheit und Bodenverbundenheit bildeten. Mit Moishe Postone[16] ist davon auszugehen, dass die Wertform der modernen Gesellschaft und die aus ihr resultierende Ausdifferenzierung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert auf der einen sowie die Warenfetischisierung auf der anderen Seite ursächlich waren für eine im Antisemitismus vollzogene Verknüpfung dieser ökonomischen Sphären mit einem konkretistischen Weltbild, in dem Abstraktes in manichäischer Weise assoziiert wurde mit dem Judentum.

Im Rahmen der völkischen und rassistischen Aufladung des Antisemitismus in Europa entwickelte sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend eine nationale Grenzen negierende und als politische Bewegung auch Grenzen überschreitende antisemitische Gemeinschaft als soziale Bewegung, die in ihren Aktivitäten, wie man mit Hannah Arendt[17] und Franz L. Neumann sagen kann, gegen den Nationalstaat und gegen die bürgerlich-republikanische Ordnung opponierte und die Fantasie eines homogenen Volkstums bzw. einer „reinen Rasse“ in Einklang mit politischen Grenzverläufen Europas bringen wollte.[18] In diesem Prozess homogenisierten sich auch die sozialen Ausdrucksformen des Antisemitismus in der Alltagspraxis in Europa.

Dreh- und Angelpunkt waren dabei das Deutsche Reich und der Nationalsozialismus als völkisch-antisemitische Bewegung, dessen primäres politisches Ziel in der Massenvernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden bestand, beginnend bei weltanschaulichen Zielformulierungen bis hin zur Planung und systematischen Umsetzung der Shoah. Insbesondere die deutschen Minderheiten in den Nachbarstaaten des Deutschen Reiches beteiligten sich umfangreich an antisemitischer Agitation und völkischer Destabilisierungspolitik, wobei die Kollaboration anderer Nationen und ihre aktive Beteiligung an der Shoah auch zeigten, dass die antisemitische Vernichtungspolitik eine wenngleich auch barbarische, so doch integrative Funktion für die Europäisierung des Antisemitismus hatte. Der europäische Gehalt des Antisemitismus in den 1930er und 1940er Jahren wurde dabei auch deutlich durch die massiven Verschärfungen der antisemitischen Politik in West- wie Osteuropa flankiert, besonders in Frankreich, Ungarn, der Slowakei, Rumänien und Kroatien.

Antisemitismus wurde im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und vor allem im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auch zum sozialen Massenereignis in Form von Demonstrationen, Aufmärschen und anderen kollektiven Initiationen, so dass die antisemitische Weltanschauung sich zunehmend aktiv mit breiteren Bevölkerungsschichten verband, wobei die Mobilisierungswirkung antisemitischer Massenansammlungen Ernst Simmel[19] folgend auch zu einer zunehmenden Dynamisierung des Antisemitismus als Weltbild beigetragen hat. Denn nun konnten die Antisemit(inn)en praktisch Ausmaß und Verbreitung ihrer Weltanschauung erfahren und erleben, so dass der Prozess der antisemitischen Massenvergemeinschaftung auch zu einer Stabilisierung des cultural code beigetragen hat.

Die Nachgeschichte: der sekundär-schuldabwehrende Antisemitismus

Durch die militärische Niederschlagung des Nationalsozialismus durch die Alliierten wurde das antisemitische Weltbild fundamental in Frage gestellt – allerdings, so zeigen zeitgenössische empirische Studien, nicht wirklich im antisemitischen Selbstbild, sondern vielmehr durch das Fremdbild: Der Antisemitismus wandelte sich vom gesellschaftlichen common sense zu einer in der Öffentlichkeit als tabuisiert wahrgenommenen Einstellung. Ein kommunikativer Umweg, auf dem antisemitische Ressentiments weiter kommuniziert wurden, war der westeuropäische Antikommunismus, der sich vielfältig dem antisemitischen Mythenhaushalt entlehnter Bilder bediente, wenn etwa in antikommunistischen Karikaturen traditionell antijüdische Formen der Darstellung Verwendung fanden.

Zugleich wandelte sich die dominante Artikulationsform des Antisemitismus in den ersten Nachkriegsjahrzehnten hin zum Motiv des sekundären, schuldabwehrenden Antisemitismus, der zunächst vor allem auf Deutschland und Österreich beschränkt war. Entstanden aus dem Wunsch nach Entlastung von der nationalsozialistischen Vergangenheit konstituierte sich der sekundäre bzw. schuldabwehrende Antisemitismus als Element der Erinnerungspolitik, das Jüdinnen und Juden für die Folgen der Shoah verantwortlich macht und die Shoah als negative Störung der nationalen Erinnerungskompetenz bestimmt. Das Bedürfnis nach nationaler Identität und einer Schlussstrich ziehenden Normalität verortet die Verantwortung für eine durch die Erinnerung an die Shoah gestörte Identitätsfindung nicht in der Massenvernichtung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland, sondern bei den NS-Opfern, die sich mit ihrem – so verstandenen – Schicksal nicht abfänden.

Und weil der Antisemitismus wegen des deutschen Massenmordes an den Jüdinnen und Juden in einen gewissen Rechtfertigungszwang geraten war, wurden Jüdinnen und Juden zur gesellschaftlichen Selbstentlastung eben in der (zugeschriebenen) Rolle der Täter/innen gebraucht und nicht in der der Opfer. An dieser Variante des Antisemitismus ist bedeutsam, dass die Artikulationsform zwar sekundär, der Gehalt aber nach wie vor antisemitisch geblieben war. Denn auch wenn die auf Schuldabwehr zielenden Zuschreibungen, die „die Juden“ als mächtig, einflussreich und geldgierig phantasieren, zuallermeist nicht wie der Antisemitismus nationalsozialistischer Prägung das Ziel haben, diese zu vernichten, so teilen sie mit diesem die völkischen Segregationswünsche ebenso wie den projektiven Wahn.

Der Schuldabwehrantisemitismus war (und ist) in allen politischen Spektren anzutreffen, artikuliert sich aber jeweils unterschiedlich: Während im neonazistischen und rechtsextremen Spektrum eine geschichtsrevisionistische Lesart dominiert, in der die Shoah geleugnet und die Barbarei des Nationalsozialismus verherrlicht wird, wandten sich Teile des linksextremen Spektrums im Kontext der Studierenden- und der Friedensbewegung der 1960er und 1970er Jahre völkischen Bewegungen zu, die als marginalisiert und unterdrückt verstanden wurden, allen voran den Palästinenser(inne)n. Die Rhetorik der antiimperialistischen Bewegungen in Europa war länderübergreifend antisemitisch geprägt und die praktische Zusammenarbeit durch die paramilitärische Ausbildung westeuropäischer Terrorist(inn)en im arabischen Raum oder andere Formen der politischen und logistischen Kooperation zeigten den Brückenschlag zwischen den Spektren, deren gewalttätigen Höhepunkt die Attentate auf die israelische Olympiamannschaft in München 1972 und die Flugzeugentführungen von Entebbe 1976 und Mogadishu 1977 bildeten. Damit hat der vielfach konstatierte „neue“, globale Antisemitismus, wie er eingangs skizziert wurde, seine Ursprünge in der europäischen, propalästinensischen Allianz des antiimperialistischen Spektrums und datiert bereits in seiner Vorgeschichte auf die 1970er Jahre.

Die antisemitische Schuldabwehr der politischen Mitte artikulierte sich dabei vor allem mit Blick auf die Ablehnung der moralischen und politischen Verantwortung für Nationalsozialismus und Shoah, aber auch mit Blick auf finanzielle Zahlungen an den Staat Israel. Neben Deutschland und Österreich hat die antisemitische Schuldabwehr auch in anderen europäischen Staaten Bedeutung erlangt und entwickelt gerade unter dem Signet der jüngeren Aufarbeitung des Nationalsozialismus unter Kollaborationsgesichtspunkten eine neue Dynamik, die sich unter anderem an der polnischen Jedwabne-Debatte zeigte.

Islamischer Antisemitismus

Dass der islamische Antisemitismus in Europa als jüngste Variante antisemitischer Artikulationsformen gilt, verweist auf eine ungenaue Rezeption: Denn während die öffentliche Wahrnehmung des islamischen Antisemitismus im europäischen Kontext erst seit wenigen Jahren erfolgt, ist das Phänomen selbst deutlich älter. So kann auch von einem „Recycling alter Mythen“[20] gesprochen werden, wenn der islamisch geprägte Antisemitismus in den Blick genommen wird. Nicht nur die weltanschaulichen und politischen Kooperationen zwischen europäischen Linksterrorist(inn)en und arabischen Islamist(inn)en in den 1970er Jahren, sondern bereits die Allianzen von Nationalsozialismus und führenden islamischen Gruppierungen um den Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, in den 1930er Jahren zeigen, dass die Integration eines islamischen Antisemitismus in Europa über Traditionsbestände verfügt, die weit vor die islamistischen Terroranschläge von 9/11 und ihre europäischen Pendants zurückreichen.[21]

Die Frage, ob es einen genuinen Zusammenhang zwischen islamischer Religion und antijüdischer bzw. antisemitischer Orientierung gibt, wird kontrovers diskutiert. Auf empirisch-vergleichender Ebene ist festzustellen, dass es einen rasanten Bedeutungszuwachs von antisemitischen Agitationen und Aktionen in Europa in den letzten Jahren gibt, die muslimische Hintergründe haben und von islamischen Trägergruppen ausgeübt werden. Der islamische Antisemitismus ist geprägt von dezentral organisierten und operierenden Gruppierungen, einer primär über das Internet erfolgenden Vernetzung und stellt dabei vor allen Dingen ein Phänomen junger Männer dar.[22]

Günther Jikeli hat in einer empirischen Studie über Antisemitismus bei Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak in Deutschland im Jahr 2017 gezeigt, dass sich dabei drei Weltbildfacetten überlagern, die maßgeblich den islamischen Antisemitismus prägen:[23] ein von Verschwörungsglauben geprägtes Welt- und Geschichtsbild, das verknüpft ist mit einem gegen Israel gerichteten Antisemitismus einschließlich einer emotionalen Überidentifizierung mit den Palästinensern und mit einer antijüdischen Haltung, die aus der Islam-Rezeption herrührt.[24] Letztere wird dominiert von Behauptungen, nach denen Juden die Heiligen Schriften verfälscht und den Propheten hätten töten wollen, sowie der Behauptung, Muslime und Juden seien generell Feinde.

Zentrale Einflussfaktoren für diese Facetten des islamischen Antisemitismus sind laut Jikeli die antisemitische Staatspropaganda von islamistischen Regimen und die damit verbundene antisemitische Schulbildung, die panarabische Ideologie mit ihrem antiimperialistischen Feindbild Israel und die islamistische Auslegung des Islam. Zugleich prägend ist aber auch die „antisemitische Norm“[25] im persönlichen Nahumfeld, die durch alte und vor allem neue Medien gestärkt wird, gerahmt durch ein Weltbild des „Palästinensismus“[26] – eine emotionale Überidentifizierung mit dem palästinensischen Opferhabitus, der infantile Regression einer Daueropferphantasie, die von Hamas und Hisbollah mit antisemitischer Vernichtungspolitik verbunden werden.

Der islamistische Terrorismus rückt die antisemitische Vernichtung in sein Zentrum und bezieht sich dabei immer wieder auf Juden und Israel als Feindobjekte; analog etwa zum Grundsatzdokument der islamistischen Hamas, die in ihrer Charta ausdrücklich die Vernichtung der Jüdinnen und Juden zum Ziel erklärt hat, wird im islamistischen Kontext nicht zwischen „Juden“ und „Israel“ unterschieden, die Begriffe werden fast immer synonym verwandt, so dass der Hass auf Israel im islamischen Antisemitismus stets ein Hass auf Juden ist bzw., andersherum formuliert, der Hass auf Juden sich alternierend auch als Hass auf Israel artikuliert: „Im islamistischen Weltbild erscheint der zionistische Staat als die Konkretisierung der gottlosen und amoralischen Moderne. Aus dieser Sichtweise ergibt sich eine verdoppelte Frontstellung gegenüber dem zionistischen Staat und den Juden. Die Juden werden nicht nur als illegitime Okkupatoren islamischen Bodens angesehen, sondern zugleich für den prekären Zustand der islamischen Gesellschaften verantwortlich gemacht.“[27]

Antisemitismus in der Gegenwart

Antisemitismus war und ist in der bundesdeutschen Geschichte offiziell diskreditiert, trotzdem sowohl in der Nachkriegszeit als auch in der Gegenwart weit verbreitet: Quantitative Studien belegen kontinuierlich und bis in die Gegenwart mindestens 15 bis 20 Prozent Antisemitinnen und Antisemiten in der deutschen Gesellschaft. Diese finden sich in allen politischen Spektren, artikulieren sich aber unterschiedlich – wobei nicht übersehen werden darf, dass alle Varianten des Nachkriegsantisemitismus eine Folge und Reaktion auf den NS-Antisemitismus sind, also nicht ohne die Massenvernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden gedacht werden können, was heißt, dass jede antisemitische Äußerung in der Gegenwart dieses Erbe der Schuldverantwortung objektiv inkorporiert, auch wenn es subjektiv nicht intendiert sein muss. Wir finden Antisemitismus in der Gegenwart gleichermaßen im rechten wie im linken Spektrum wie auch in der gesellschaftlichen Mitte. Das überrascht angesichts der Erkenntnisse von Seymour M. Lipset[28] über den extremism of the center zwar sozialwissenschaftlich wenig, ist allerdings in der konkreten Ausdifferenzierung wichtig, um die Dynamiken des Antisemitismus verstehen zu können.

Der rechte Antisemitismus ist weltanschaulich ein völkisch-rassistischer Antisemitismus, den wir seit der zweiten parlamentarischen Erfolgswelle der NPD seit den 2000er Jahren auch als Bestandteil des politischen Systems erleben, etwa wenn der sächsische NPD-Abgeordnete Jürgen Gansel die geschichtsrevisionistische und antisemitische Metapher vom „Bomben-Holocaust“ öffentlich prominent gemacht hat. Der rechte Antisemitismus verbindet die Bagatellisierung oder Leugnung der Shoah und die Verherrlichung des Nationalsozialismus miteinander, wobei dies, wie bei der populistisch agierenden AfD, auch seinen Ausdruck in der versuchten Rehabilitierung von Institutionen des antisemitischen Vernichtungskrieges wie der Wehrmacht finden kann.

Rechter Antisemitismus zeichnet sich in seiner neonazistischen Ausrichtung durch seine verbale Radikalität und seinen sprachlichen Revisionismus aus, ist grundsätzlich gewaltbereit und die Grundlage für zahlreiche Propagandadelikte, Brand- und Bombenanschläge wie auch für antisemitische Morde. Der Antisemitismus ist das Zentrum des rechtsextremen Weltbildes, er ist strafrechtlich von erheblicher Bedeutung, aufgrund seiner autoritären Strukturierung allerdings für pädagogische Interventionen nur sehr schwer zugänglich. Auffällig am rechten Antisemitismus ist auch, dass er offen ist für internationale antisemitische Allianzen, gerade mit dem islamistischen Spektrum.

Linker Antisemitismus unterscheidet sich strukturell vom rechten zunächst einmal dadurch, dass Antisemitismus kein integraler Bestandteil linker Weltbilder ist, sondern nur in bestimmten, vor allem antiimperialistischen und postmodernen Spektren anzutreffen. Linker Antisemitismus begreift sich in aller Regel als moralisch überlegen und reklamiert für sich nicht nur andere zu beurteilen, sondern abschließend über sie zu richten. Die Voraussetzung des linken Antisemitismus der Gegenwart bildet dabei die Nichtaufarbeitung des linken Antisemitismus der 1970er und 1980er Jahre, der ein zentrales Strukturmerkmal der antiimperialistischen Gruppen und des Linksterrorismus war und die heutige Globalisierung des Antisemitismus wesentlich vorbereitet hat. Die linken Organisationen, die heute Antisemitismus und Israelhass verbreiten, verfolgen nach wie vor das völkische Weltbild des Antiimperialismus, das von ethnisch-kollektiven Homogenitätsvorstellungen geprägt ist. Der Antiimperialismus, der sich primär gegen Amerika und Israel richtet, stellt die Rahmenideologie dar, deren integraler Bestandteil der Antisemitismus ist, vor allem in Form des Antizionismus.

Während die gesellschaftliche Mitte vor allem der Ort ist, an dem schuldabwehrende Formen von Antisemitismus zu lokalisieren sind, kommt ihr noch eine spezifische Verantwortung für den gegenwärtigen Antisemitismus zu: Denn die Mobilisierungsmöglichkeiten des Antisemitismus haben ihre Ursache in der Mitte der Gesellschaft. Denn die Mehrheit der Antisemitinnen und Antisemiten geht davon aus, wie vor allem Werner Bergmann und Rainer Erb[29] gezeigt haben, dass es ein Tabu in der Bundesrepublik gebe, sich antisemitisch zu äußern. Zahlreiche historische Beispiele, wie etwa die Diskussion um die antisemitische Schmierwelle 1959/60, die Fassbinder-Kontroverse oder der Historikerstreit, zeigen, dass ein solches Tabu zwar immer in der antisemitischen Phantasie, nie aber in der Realität existiert hat, gleichwohl führte diese Phantasie dazu, dass über lange Zeiträume in der bundesdeutschen Geschichte antisemitische Äußerungen aus der Mitte der Gesellschaft nicht öffentlich, sondern nur halb-öffentlich – etwa am Stammtisch – geäußert wurden. Dies änderte sich mit der Paulskirchen-Rede von Martin Walser 1998, in der Walser Antisemitismus öffentlich salonfähig gemacht hat. In dieser Rede wandte sich Walser ganz in der Tradition des Schuldabwehr-Antisemitismus gegen eine kritische Reflexion der Vergangenheit und die „Moralkeule“ Auschwitz, deren Allgegenwärtigkeit er halluzinierte. Er sprach von einer „Dauerpräsentation unserer Schande“ und einer „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“, von einem „grausamen Erinnerungsdienst“ und einer „Routine des Beschuldigens“ in den Medien, wobei er selbst bei seiner Rede „vor Kühnheit“ zittere.[30]

Seit Walsers Rede fungieren Äußerungen von prominenten Politiker(inne)n oder Künstler(inne)n aus der „Mitte der Gesellschaft“ dazu, dass die ohnehin vorhandenen antisemitischen Einstellungen wieder zunehmend öffentlich sagbar werden. Insofern liegt die Verantwortung der gesellschaftlichen Mitte auch darin, dass in einem öffentlichen Klima, in dem Israelhass und antisemitische Schuldabwehr fortwährend öffentlich kommuniziert werden, auch rechter und linker Antisemitismus wieder alltäglicher werden.

Was ist nun das „Neue“ oder das Besondere am Antisemitismus in der Gegenwart? Zentral dürfte sein: Die ideologischen Grenzen sind gefallen, international war der Antisemitismus in seinem Anspruch schon immer, allerdings integriert er heute alle politischen Spektren, was innenpolitisch das „Ende der Schonzeit“ für Jüdinnen und Juden bedeutet, wie Salomon Korn[31] es schon vor mehreren Jahren gesagt hat, zugleich lässt sich international eine – wenngleich auch noch marginale –Vernetzung der Antisemit(inn)en erkennen. Neu ist auch, dass der Antisemitismus der Gegenwart generell moralisch überlegen auftritt, wobei das revisionistische „Ja, aber …“ zunehmend einer arroganten Besserwisserei der Antisemit(inn)en weicht. Zudem muss attestiert werden, dass Antisemitismus zu wenig sanktioniert ist: Öffentlich, aber auch strafrechtlich – man sollte nicht vergessen, dass Antisemit(inn)en psychologisch nach autoritären Mustern agieren, also gerade die repressive Sanktionierung bei ihnen ein Mittel ist, dessen Wirkung nicht unterschätzt werden darf. Keine Frage: Mit dem Strafrecht wird man aus Antisemit(inn)en keine Demokrat(inn)en machen. Aber wenn sowieso klar ist, und das zeigt die gesamte sozialwissenschaftliche Forschung, dass das Weltbild des Antisemitismus aufklärungsresistent ist und antisemitische Überzeugungen nicht trotz, sondern wegen ihrer Irrationalität geglaubt werden, und insofern Antisemitismus ein Problem der und ein Problem mit den Antisemit(inn)en ist, dann wäre ihre öffentliche und auch strafrechtliche Sanktionierung ein wesentlicher Schritt zur Stärkung der Demokratie – für die Demokratinnen und Demokraten.

Eines muss abschließend aber auch noch festgehalten werden: Seit Martin Walser nimmt der öffentlich artikulierte Antisemitismus in Deutschland fraglos zu, was auch Auswirkungen auf die statistisch messbare Zunahme von antisemitischen Straftaten hatte und hat. Dennoch nehmen wir heute manche Formen von Antisemitismus auch deutlicher wahr als noch „vor Walser“, da das Internet in Blogs und sozialen Netzwerken voll ist von antisemitischen Äußerungen,[32] die man ohne digitale Medien nicht wahrgenommen hätte – weil die meisten Zeitungen, die den antisemitischen Müll des Internet noch vor 20 Jahren als Leserbriefe bekommen haben, diese in vielen Fällen sinnvollerweise in den Papierkorb befördert haben. Wenn wir bedenken, dass ein wesentlicher Zug des NS-Antisemitismus die systematische Entrechtung von Jüdinnen und Juden bei gleichzeitiger politischer Willkür war, wie sie Ernst Fraenkel und Franz L. Neumann beschrieben haben, könnte man die Perspektive auch genau umkehren und als politische Forderung an die Gegenwart ein nachhaltiges demokratisches Instrument gegen Antisemitismus erwägen: eine ernsthafte Erweiterung des Strafrechts um einen Straftatbestand, den es in Österreich schon lange gibt. Er heißt: Verbot der Wiederbetätigung. Im Vergleich zu Österreich müsste es freilich anders akzentuiert und deutlich geschärft werden, so dass man jede Form von Antisemitismus als Wiederbetätigung verstehen und strafrechtlich bewehren müsste. Ausgehend von einem solchen Rechtsinstrument ließe sich ein Bogen schlagen zwischen der gesellschaftstheoretischen Erkenntnis, dass jede Form von Antisemitismus in der Gegenwart Teil der Nachgeschichte des Nationalsozialismus ist, über die schon von Jean-Paul Sartre 1945 formulierte Einsicht, dass Antisemitismus aufklärungsresistent ist und insofern gegen manifesten Antisemitismus jede Pädagogik hilflos bleiben muss, mit dem Ziel, Antisemitismus wirksam zu bekämpfen – als Schutz für Jüdinnen und Juden, aber auch als elementarer Bestandteil jedes demokratischen Anspruchs.

 

Prof. Dr. Samuel Salzborn ist Politikwissenschaftler und lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Letzte Buchveröffentlichungen: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Leipzig 2020; Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne. Mit einem Vorwort von Josef Schuster, Weinheim 22020; Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der Neuen Rechten, Weinheim 2017. Weitere Informationen unter http://www.salzborn.de
 


[1] Vgl. Jean-Paul Sartre: Portrait de l’antisémite, in: Les Temps modernes 1 (1945), H. 3, S. 442-470.

[2] Vgl. Samuel Salzborn: Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne. Sozialwissenschaftliche Theorien im Vergleich, Frankfurt am Main/New York 2010.

[3] Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt am Main 1997, S. 125.

[4] Vgl. Samuel Salzborn: Antisemitismus. Geschichte, Theorie, Empirie, Baden-Baden 2014, S. 11-23.

[5] Vgl. Samuel Salzborn: Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne. Mit einem Vorwort von Josef Schuster, Weinheim 2018.

[6] Vgl. David Gelernter: Warum Amerika? Bin Ladins Haß ist Judenhaß, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.10.2001.

[7] Vgl. Salzborn 2014 (wie Anm. 4), S. 103-115.

[8] Vgl. Samuel Salzborn: Kampf der Ideen. Die Geschichte politischer Theorien im Kontext, Baden-Baden 22017.

[9] Vgl. Salzborn 2014 (wie Anm. 4), S. 43 ff. und Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern, Leipzig 2020, S. 67 ff.

[10] Vgl. Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XVI, Frankfurt 1999, S. 101-246.

[11] Vgl. Johannes Heil: „Gottesfeinde“ – „Menschenfeinde“. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13. bis 16. Jahrhundert), Essen 2006, S. 301.

[12] Vgl. Hannah Arendt: The Origins of Totalitarianism, New York 1951.

[13] Sartre (wie Anm. 1), S. 448.

[14] Vgl. Shulamit Volkov: Antisemitism as a Cultural Code. Reflections on the History and Historiography of Antisemitism in Imperial Germany, in: Yearbook of the Leo Baeck Institute, Vol. XXIII, Oxford 1978, S. 25-46.

[15] Vgl. Sartre (wie Anm. 1), S. 452.

[16] Vgl. Moishe Postone: Die Logik des Antisemitismus, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 36 (1982), S. 13-25, hier S. 18 f.

[17] Vgl. Arendt (wie Anm. 12) und Franz L. Neumann: Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism 1933-1944 (with new Appendix), New York 21944.

[18] Vgl. Samuel Salzborn: Ethnisierung der Politik. Theorie und Geschichte des Volksgruppenrechts in Europa, Frankfurt am Main/New York 2005.

[19] Vgl. Ernst Simmel: Anti-Semitism and Mass Psychopathology, in: ders. (Hg.): Anti-Semitism. A Social Disease, New York 1946, S. 33-78.

[20] Marvin Perry/Frederick M. Schweitzer (Hg.): Antisemitic Myths. A Historical and Contemporary Anthology, Bloomington 2008, S. 307.

[21] Vgl. Salzborn 2018 (wie Anm. 5), S. 113 ff.

      [22] Günther Jikeli: European Muslim Antisemitism. Why Young Urban Males Say They Don’t Like Jews, Bloomington 2015.

[23] Vgl. Günther Jikeli: Einstellungen von Geflüchteten aus Syrien und dem Irak zu Integration, Identität, Juden und Shoah. Forschungsbericht Dezember 2017, hg. vom American Jewish Committee Berlin Office, Berlin 2017.

[24] Vgl. ebd., S. 20 ff.

[25] Ebd., S. 40.

[26] Ebd., S. 41.

[27] Michael Kiefer: Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften. Der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes, Düsseldorf 2002, S. 124.

[28] Vgl. Seymour Martin Lipset: Social Stratification and ‚Right-Wing Extremism’, in: The British Journal of Sociology 10 (1959), S. 346-382.

[29] Vgl. Werner Bergmann/Rainer Erb: Kommunikationslatenz, Moral und öffentliche Meinung. Theoretische Überlegungen zum Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (1986), H. 2, S. 223-246.

[30] Martin Walser: 1998: Die Banalität des Guten. Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12. Oktober.

[31] Vgl. Salomon Korn: Ende der Schonzeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 06.05.2002.

[32] Vgl. Monika Schwarz-Friesel/Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin/New York 2013.

 
 

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