„Die Nachkriegsdemokratie kam aus den Ländern“ – von Philipp Gassert
Just am 8. Mai 1949, genau vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs, wurde im Parlamentarischen Rat zu Bonn das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Damit war das große Zukunftswerk einer freiheitlich-demokratischen Verfassung symbolisch aufs Engste mit der totalen militärischen wie auch moralisch-politischen Niederlage Deutschlands verknüpft.1 Die ambivalente Symbolkraft der Demokratiegründung stellte der spätere erste Bundespräsident, Theodor Heuss, beim Abschluss der Bonner Verfassungsberatungen direkt heraus: „Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“2 Er nahm damit die berühmten Worte eines seiner Nachfolger im Amt des Bundespräsidenten, Richard von Weizsäcker, vorweg. Dieser erhob 1985, als längst sichtbar geworden war, dass die vom Parlamentarischen Rat erarbeitete Verfassung eine funktionierende Demokratie mitbegründet hatte, die Ambivalenz des 8. Mai zur staatstragenden Doktrin: Er sprach vom Ende eines „Irrweges deutscher Geschichte“, der aber den „Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg“.3
Der liberale Württemberger FDP-Politiker Heuss gehörte zu den prominenten und prägenden Mitgliedern des Parlamentarischen Rats. Seine politische Biographie weist in die Weimarer Republik zurück. Doch weitgehend vergessen ist, dass bevor er zu einem der „Väter des Grundgesetzes“ wurde, Heuss schon im Sommer 1946 als Mitglied der Verfassunggebenden Landesversammlung von Württemberg-Baden an einer demokratischen Verfassungsgebung mitgewirkt hatte. Diese hatte Weichenstellungen des Bonner Grundgesetzes in zahlreichen Aspekten vorweggenommen und ihrerseits bereits „Lehren aus Weimar“ gezogen. Über vergleichbare Vorerfahrungen verfügten auch andere Mitglieder des Parlamentarischen Rats wie der Bayerische Staatsminister Anton Pfeiffer (CSU), der die Beratungen auf Herrenchiemsee leitete, aber zuvor dem vorbereitenden Verfassungsausschuss der Verfassunggebenden Landesversammlung in Bayern angehört hatte.4
Der liberale Württemberger FDP-Politiker Heuss gehörte zu den prominenten und prägenden Mitgliedern des Parlamentarischen Rats. Seine politische Biographie weist in die Weimarer Republik zurück. Doch weitgehend vergessen ist, dass bevor er zu einem der „Väter des Grundgesetzes“ wurde, Heuss schon im Sommer 1946 als Mitglied der Verfassunggebenden Landesversammlung von Württemberg-Baden an einer demokratischen Verfassungsgebung mitgewirkt hatte. Diese hatte Weichenstellungen des Bonner Grundgesetzes in zahlreichen Aspekten vorweggenommen und ihrerseits bereits „Lehren aus Weimar“ gezogen. Über vergleichbare Vorerfahrungen verfügten auch andere Mitglieder des Parlamentarischen Rats wie der Bayerische Staatsminister Anton Pfeiffer (CSU), der die Beratungen auf Herrenchiemsee leitete, aber zuvor dem vorbereitenden Verfassungsausschuss der Verfassunggebenden Landesversammlung in Bayern angehört hatte.4
Zu deren Mitgliedern gehörte auch der Franke Thomas Dehler (FDP), später Adenauers erster Justizminister. Eine zentrale Figur des Parlamentarischen Rats war der Südwürttemberger Justizminister Carlo Schmid (SPD), der auch auf Herrenchiemsee mitarbeitete.5 Schon zuvor hatte Schmid Entwürfe für die Verfassungen sowohl von Württemberg-Baden als auch von Württemberg-Hohenzollern maßgebend erarbeitet. Ähnliche Details ließen sich von den hessischen „Verfassungsvätern“ Heinrich von Brentano (CDU) sowie Ludwig Bergsträsser und Georg August Zinn (beide SPD) berichten.6
Diese biographischen Spuren erinnern daran, dass die Nachkriegsdemokratie nicht einfach aus dem Parlamentarischen Rat entsprang, wie es in Rückblicken manchmal erscheint.7 Absolut prägend war die Verfassungsgebung in den süddeutschen Ländern 1946/47. Sie nahm das Grundgesetz in zahlreichen Aspekten vorweg. Doch die Verfassungen der Länder sind aus der deutschen demokratischen Traditionserzählung fast völlig herausgefallen. Zu Unrecht, wie ich meine: Werden historische Linien gezogen, dann führen sie zur Weimarer Reichsverfassung oder zur Paulskirchenverfassung von 1848/49 zurück, sowie zu deren Vorbildern in Frankreich und USA. Doch schon die Paulskirche baute auf den von den Monarchen „oktroyierten“ Verfassungen der deutschen Bundesstaaten nach 1815 auf.
Diese biographischen Spuren erinnern daran, dass die Nachkriegsdemokratie nicht einfach aus dem Parlamentarischen Rat entsprang, wie es in Rückblicken manchmal erscheint.7 Absolut prägend war die Verfassungsgebung in den süddeutschen Ländern 1946/47. Sie nahm das Grundgesetz in zahlreichen Aspekten vorweg. Doch die Verfassungen der Länder sind aus der deutschen demokratischen Traditionserzählung fast völlig herausgefallen. Zu Unrecht, wie ich meine: Werden historische Linien gezogen, dann führen sie zur Weimarer Reichsverfassung oder zur Paulskirchenverfassung von 1848/49 zurück, sowie zu deren Vorbildern in Frankreich und USA. Doch schon die Paulskirche baute auf den von den Monarchen „oktroyierten“ Verfassungen der deutschen Bundesstaaten nach 1815 auf.
1 Vgl. Heinrich Oberreuter/Jürgen Weber: Die Niederlage, die eine Befreiung war: Zur Einführung, in: dies. (Hg.): Freundliche Feinde? Die Alliierten und die Demokratiegründung in Deutschland, München 1996, S. 9-20. 2 Theodor Heuss, in der 10. Sitzung des Plenums, 8. Mai 1948, in: Wolfgang Becker (Hg.): Theodor Heuss: Vater der Verfassung. Zwei Reden im Parlamentarischen Rat über das Grundgesetz 1948/49, München 2009, S. 92. 3 Richard von Weizsäcker, Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa, Bonn 8. Mai 1985, Bundespräsidialamt, https://www. bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html [Stand: 15.05.2023]. 4 Vgl. zu den Beratungen in Bayern grundlegend Barbara Fait: Demokratische Erneuerung unter dem Sternenbanner. Amerikanische Kontrolle und Verfassungsgebung in Bayern 1946, Düsseldorf 1998. 5 Vgl. Petra Weber: Carlo Schmid 1896-1979. Eine Biographie, München 1996, S. 272. 6 Vgl. Walter Mühlhausen: „… die Länder zu Pfeilern machen …“. Hessens Weg in die Bundesrepublik Deutschland, 1945-1949, Wiesbaden 1989; zu den Mitgliedern die Seite „Beobachtungen: Der Parlamentarische Rat 1948/49“, Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, https://www.parlamentarischerrat.de/mitglieder_891.html [Stand: 25.05.2023]. 7 So fehlen in der offiziellen Jubiläumspublikation des Bundesinnenministeriums des Innern, für Bau und Heimat von 2020 sämtliche Hinweise auf die vorherige verfassungsgebende Tätigkeit in den Ländern, auch in den beiden historischen Beiträgen von Paul Nolte und Gabriele Metzler, siehe Lars Lüdicke (Hg.): Deutschland in bester Verfassung? 70 Jahre Grundgesetz, Berlin 2020; vgl. auch die „Denkschrift“ von Hans Michael Heinig/Frank Schorkopf (Hg.): 70 Jahre Grundgesetz. In welcher Verfassung ist die Bundesrepublik?, Göttingen 2019.